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Jürgen Wilbert über:
Wolfdietrich Jost: „Gegen den Strom – Gedankenflüge, Gedankenflüsse, Gedankenstrudel“. Würzburg: Königshausen & Neumann 2024.

 

Im überaus regen Würzburger Verlag Königshausen & Neumann (was in jüngerer Zeit die Publikation von Aphorismen betrifft) ist Ende 2024 ein weiteres Buch erschienen, das laut Klappentext „eine Zusammenstellung von Aphorismen, Maximen, Sentenzen. Provokationen und Gegengedanken“ darstellt. Bei dem Autor Wolfdietrich Jost handelt es sich wohl im Hinblick auf die Veröffentlichung von Aphorismen bzw. aphoristischen Kurztexten um einen Novizen; zumindest ist er als Aphoristiker noch nicht groß in Erscheinung getreten. Jost war nach Tätigkeit im Redaktionsarchiv einer Tageszeitung als Wissenschaftler im Hochschuldidaktischen Zentrum der Universität Essen aktiv. Er kann laut dem Verlagsprospekt auf „zahlreiche wissenschaftliche und bildungspolitische Veröffentlichungen“ verweisen. Seit seiner Pensionierung hat er sich nun literarischen Publikationen zugewandt. Etwas hochtrabend heißt es ebendort mit Blick auf seine Intention: „Das Buch will …neue Gedankengänge begehbar und … ungedachte Wege sichtbar und denkbar machen.“ Doch bei genauerer Durchsicht zeigt sich schnell, dass der Autor diesem ambitionierten Ziel kaum gerecht werden kann.

Wir finden zum Beispiel im Kapitel I „Die politische Arena“ vorzugsweise eher banale gesellschafts- bzw. kapitalismuskritische Aussagen bzw. Kommentare, etwa unter der Überschrift „Verantwortung: „Die Politiker übernehmen gern Verantwortung, denn sie ist leicht zu tragen. Verantwortung ist in der Politik ein Leergut.“ (S. 10) Über Politiker wird pauschal so geurteilt: „Viele werden gewählt, aber nur wenige sind berufen.“ (17) Wie wenig differenziert der Autor seine Themen bearbeitet, zeigt sich besonders deutlich im Epilog (S. 20) über „Reiches Deutschland“. Ich zitiere nur die letzten Zeilen (von insgesamt 20!), die durchweg als Chiasmus konstruiert sind: „Sie (die AfD) macht reich und arm unvernünftig gleich / Oder gleich unvernünftig. / Die deutsche Politik ist reich an Gedankenarmut / Und arm an Gedankenreichtum.“

Josts „Gedankenstrudel“ sind weitestgehend ideologisch (positiv gewendet: ideologiekritisch) und plakativ – ganz im Sinne der früheren Agitprop-Bewegung: „Nächstenliebe im Kapitalismus – Liebe deinen Nächsten wie dein Geld.“ / „Stillstand – Alle Räder stehen still, wenn der Hedge Fond Manager es will.“ Da vermögen es auch die ständigen Überschriften nicht, den Texten mehr Gehalt zu verleihen. Zu den Gattungssspezifika des Aphorismus zählen nicht nur eine generelle, über den konkreten Anlass hinausgehende überzeitliche Gültigkeit, sondern auch eine sprachlich-stilistische Pointierung oder auch Finesse. Doch diese wesentlichen Merkmale findet man in diesem Buch kaum, bestenfalls noch in solchen Sentenzen: „Identität ist die Summe der eigenen Selbsttäuschungen.“ (30) Die Neigung der Autors zu Überschriften wirkt m. E. eher störend, vor allem im Kapitel „Die Walhalla der Ego-Helden“ (31 ff.). Das Spiel mit den Kontradiktionen und scheinbaren Paradoxien ermüdet mit der Zeit: „Ego und alter Ego – der Egoismus ist meine Stärke. Der Altruismus ist meine Schwäche.“ (40) Und: „Der erste Schritt – Der erste Schritt auf dem Weg zur Vollkommenheit: Die Einsicht in die eigene Unvollkommenheit.“ (38) Mit Karl Kraus möchte man kritisch anmerken: „Ein Agitator ergreift das Wort. Der Künstler wird vom Wort ergriffen.“

Viele Sätze sind als bloße Behauptungen wenig überzeugend, etwa: „Die Wissenschaft stellt alles in Frage, nur nicht sich selbst.“ (48) Und: „Ein Freund der Menschheit ist ein Feind alltäglicher Hilfeleistungen.“ (57) / „Das, was gefallen soll, muss auffallen. (Hier unter der anspruchsvollen Überschrift „Ästhetik der Gegenwart“, S. 65) (Im Kurztext auf S. 63 fehlt übrigens in der Überschrift der Hinweis auf Karl Kraus, der seinerzeit vom „Volk der Richter und Henker“ sprach. Bei Jost heißt es: „Die Deutschen, das Volk der Dichter und Henker – Hölderlin lesen / Und Heydrich werden.“)

Nach der Lektüre des Buches könnte man diesem Epilog (66) von Jost boshaft beipflichten: „Das Licht am Ende des Tunnels – ein Irrlicht“. Jedenfalls kann m. E. das Buch den eigenen hochgesteckten Anspruch keineswegs einlösen, nämlich „Irrwege in der eigenen Gedankenwelt … als irre zu erkennen“. Am originellsten und lesenswert finde ich die Kurzgeschichte „Das Streichkonzert“ als „Konzertanten Schlussakkord“. Möglicherweise vermag Jost doch eher durch das Schreiben von Essays und Glossen zu überzeugen; immerhin findet der Begriff Aphorismus im Untertitel des Buches keine Erwähnung, dort ist lediglich von Gedankenflügen, Gedankenströmen und Gedankenstrudel die Rede. Folgerichtig hat der Autor seinen Gedanken relativ freien Lauf gelassen und kommt insgesamt zu mehr frag- als denkwürdigen Aussagen.

Dem Verlag ist es hoch anzurechnen, dass er der ansonsten im offiziellen Literaturbetrieb stark vernachlässigten Gattung des Aphorismus eine Bühne bietet; dennoch bleibt der getrübte Eindruck, dass er mit der Veröffentlichung so mancher noch unausgereifter aphoristischer Texte der Gattung einen zweifelhaften Dienst erweist.

JWD, 5.2.2025

 

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