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Friedemann Spicker über:
Wilhelm Genazino: Der Traum des Beobachters. Aufzeichnungen 1972-2018. Ausgewählt, hrsg. und mit einem Nachwort von Jan Bürger und Friedhelm Marx. München: Hanser 2023.

 

Der Aphorismus ist dem Werk Wilhelm Genazinos (1943-2018), mit seinen zwanzig zwar durchweg kurzen Romanen, seinen Dramen, Hörspielen und Essays nicht nur einer der produktivsten, sondern vor allem zweifellos auch einer der bedeutendsten Schriftsteller seiner Generation, nicht gänzlich fremd, wenn er darin auch nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. In dem Roman „Die Liebe zur Einfalt“ (1990) ist er auch ‚regelrecht‘ im Druckbild isoliert erkennbar: „Das wichtigste Kennzeichen einfacher Menschen: Sie legen sich ihre Unwissenheit als Anrecht auf Güte aus.“ (49); „Die Biographie macht immer zwei Personen aus uns: einen einzelnen Bestimmten und einen einzelnen Irgendjemand.“ (149) Und 1990 ist sogar ein eigener Band mit Aphorismen erschienen: „Vom Ufer aus“ (mit Barbara Kisse, Illustrationen). Die Motti, die auch die neuen Aufzeichnungen beleuchten, finden sich schon hier: „Das Wunderbare geschieht, wenn wir etwas bemerken.“ (5) „Einfälle entstehen durch langes Schauen.“ (30) Formal sind es scheinbar schlichte Aussagesätze ohne rhetorischen Putz, Themen sind das Glück, das Schreiben, die Melancholie, die unerträgliche Realität, Scham und Schweigen, der Gewissheitsverlust, konkret die Beobachtung vor allem von Kindern und Tieren. In zwei Beispielen wird der Genazino-Sound – wenn man so sagen darf – hörbar, wie er durchweg und also auch in dem jetzt vorliegenden Werktagebuch, anklingt: „Die Aufgabe ist, das Ungenügende genügend zu finden.“ (64); „Man darf sein Verschwinden nicht dem Tod allein überlassen.“ (70) Eine kleine Auswahl findet sich später auch in dem ihm gewidmeten „Text und Kritik“-Band: „Aus dem Tagebuch der Verborgenheit“ (Band 162, 2004, S. 7-10).

Entsprechend gespannt ist man, wenn von ihm nun „Aufzeichnungen“ angekündigt werden, umso mehr, als der Klappentext ihn auch als „funkelnden Aphoristiker“ bezeichnet. Der Begriff der Aufzeichnung ist seit 1991 verstärkt diskutiert worden. Das ist kein Wunder, hat doch die Zahl solcher – offenen, unverbindlichen – „Aufzeichnungen“ als Textsortenbezeichnung für unterschiedliche Kurzformen in einem je eigenen Mischungsverhältnis in den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen. Ob die Aufzeichnung im Zeitalter des Fragments als zentrale Integrationsform oder als offenes Auffangbecken zu gelten hat, ob sie in Konkurrenz zum Aphorismus oder in einem Verhältnis vielfacher Verschränkung zu sehen ist: lauter Fragen, die die Literaturwissenschaft aufgegriffen hat, die aber der restlosen Klärung harren. Sie reicht nach bedeutenden frühen Fomen wie den seit 1973 erschienenen Aufzeichnungen Canettis, Schnurres Aufzeichnungen „Der Schattenfotograf“ (1978) und Aichingers „Aufzeichnungen 1950-1985“ (1987) heute – um nur wenige zu nennen – von Bänden wie Harald Hartungs „Der Tag vor dem Abend“ (2012) oder Günter Kunerts „Tröstliche Katastrophen“ (2013) bis zu Christoph Petersʻ Experiment „Einschreiben. Aufzeichnen.“ (2013), das jenseits der Gattung zu verorten ist.

Wie füllt nun Genazino diese Gattung? In „Der Traum des Beobachters“ liegt eine sehr kleine Auswahl aus den Werktagebüchern des Autors vor. Er hat seine Aufzeichnungen unmittelbar notiert – „Kurzzeit-Visionen“ nennen die Herausgeber sie (453) –, später mit der Schreibmaschine abgetippt und chronologisch abgeheftet: als „Material“ für seine Romane, das schließlich 38 Aktenordner füllte. Es findet sich auch eingeklebtes Bildmaterial; die ersten handschriftlichen Notizen hat er nicht aufbewahrt. In einer „Reflexion über die Entstehung und die Funktion seiner fortlaufenden Aufzeichnungen“ anlässlich einer Ausstellung im Marbacher Literaturarchiv bringt Genazino eine doppelte Motivation zum Ausdruck: Freude („Es ist eine Freude, sofort, das heißt an Ort und Stelle, auf die Wirklichkeit mit Schreiben zu reagieren.“, 8) und Angst („Der Grund der Zettelsammlung: „Die Angst, dass mich eines Tages das Schreiben selbst verlassen würde.“, 8).

Das Nachwort unterrichtet den Leser über die Verbindung von Konzeption und Ausführung: „Sehr viele Aufzeichnungen gingen in stark bearbeiteter Form in Genazinos für die Veröffentlichung bestimmte Werke ein.“ (445) Sie sind in der Tat eng verzahnt mit seinen Romanen und partienweise sogar indentisch, etwa zu „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ (1989): „Die Notizen des ‚Werktagebuchs‘ wanderten hier bis zur Auflösung der Narration in den Roman ein.“ (454) Wir sehen in diversen Szenen den Hörspielautor an der Arbeit, wir erinnern uns an den ersten großen Erfolg, die Abschaffel-Trilogie (21-25), finden verstreute Notizen zu einem Bordellroman und zu einem Projekt „Doppelleben“ (wie es der Jugendliche führte) und derlei mehr. Für diese Verschränkung mit dem epischen Werk ist insbesondere die Schicht der Erinnerungen zu nennen, so in den autobiographischen Romanen „Die Liebe zur Einfalt“ (1990) über die Eltern, den Vater, einen scheiternden Erfinder, und die depressive Mutter, die ihre Tage im Bett verbringt, und „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ (2003) über seine Anfänge als Lokalreporter; viele Episoden und Motive sind dem Genazino-Leser von daher schon bekannt. Aus Notizen zu Fotografie („Autorenfotos“), zu Langeweile, Lächerlichkeit und Komik entwickelten sich die späteren Essays.

In einer zweiten Schicht heben sich bekannte Motive wie das Meer („Meer: Es verständigt sich mit meinem Inneren ohne mein Zutun und ohne mein Verstehn“ , 181) heraus, in späteren Jahren auch vielfach Bemerkungen über das Alter. Vor allem reflektiert der Autor wiederholt, was ihm das Schreiben bedeutet, etwa im Juni 1987: „Man macht etwas und weiß von Anfang an, dass man es nie ganz versteht.“ (131) Schon 1974 notiert er dazu lapidar-pathetisch: „Ich habe mich mehrfach halbtot und wieder lebendig geschrieben.“ (21) Den Vorgang des Aufzeichnens analysiert er 1987 in einer Klarheit, die nichts zu wünschen übrig lässt: „Technik des Schreibens: eine Beobachtung machen, im Augenblick der Ins-Werk-Setzung der Beobachtung die beobachtete Sache schon als Text sehen und sie als Beute (und die Beute als Jux) wegtragen. Deswegen oft gute Laune.“ (135) Die Aufzeichnung geht von der „Technik“ aus, blendet von der „Beobachtung“ sogleich in den „Text“ und endet in der Beschreibung der Wirkung auf den Schreibenden selbst („Beute“), die gleich darauf selbstironisch gebrochen wird („Jux“). Im Jahr darauf setzt er dieses Aufzeichnen mit einem seiner Kernthemen, der Erträglichkeit bzw. Unerträglichkeit des Lebens, in Verbindung: „Schreiben II. Schreiben will nicht Leben festhalten, sondern seine Verflüchtigung erträglich machen.“ (152) Es ist dies die „Panik“, die gleichfalls die Texte durchzieht („Eines meiner Grundgefühle: Panik.“, 101) und die vermutungsweise auf die Kunst und den Künstler übertragen wird: „Vielleicht hat Kunst nie etwas mit Gesellschaft zu tun gehabt; vielleicht war sie immer nur Ausdruck der Panik, dass man es immer nur mit sich selbst zu tun hat.“ (113) Es ist sein „Kunstschmerz“: „der Schmerz darüber, dass ich Literatur und Kunst nötig haben werde, um das Leben auszuhalten.“ (163) Und im März 2014 geht es um das Schreiben als seine eigentliche Heimat: „Sobald ich schreibe, wird die Frage, wo ich mich befinde, zweitrangig, wenn die Arbeit selbst gelingt. Wichtig ist dann nur: ich hatte einen Ort gefunden, an dem Schreiben ohne Behinderung möglich war, und dabei entstand eine Art von Zugehörigkeit, die man Heimat nennen kann.“ (402)

Von der überaus großen reflektierten Belesenheit des Schulabbrechers und Autodidakten, der erst mit annähernd 40 Jahren auf dem Zweiten Bildungsweg das Abitur ablegt und dann nebenher ein Studium aufnimmt, zeigen die zahlreichen Bemerkungen zu Autoren von Joseph Conrad und Marcel Proust bis Brigitte Kronauer und Martin Walser, allen voran seinen Leitautoren, an dener er sich misst und mit denen er sich identifiziert, neben Marguerite Duras Kafka, für dessen Werk die intensive Beschäftigung schon 1974 bezeugt ist und auf den er immer wieder zurückkommt (2012: „Der Autor, in dessen Texten ich mich am heimischsten fühle, ist nach wie vor Kafka.“, 390) und Beckett.

Es ist nun aber nicht so, dass sich hier nur der unheilbare Melancholiker zeigte, der seine Obsessionen und Neurosen fruchtbar macht, der weltfremde Introvertierte und Poeta doctus. Ganz vom Rande her beobachtet der Autor durchaus auch die Mediengesellschaft, in der er sich bewegt, mit schärfster Kritik, versteht sich: „In der Mediengesellschaft ist Reden ein Erwerbszweig.“ (253) Nur zwei Beispiele dazu; im ersten zeigt er sich 1985 als Visionär („In zehn oder fünfzehn Jahren wird es Fernsehsendungen geben, deren Dumnmheit wie eine körperliche Verletzung wirken wird.“, 107), im zweiten vom Juni 1992 als unbeirrbarer Kapitalismuskritiker: „Der moderne Kapitalismus liefert zu den Wunden, die er schlägt, immer auch gleich das Verbandmaterial dazu; dieser Service macht unsere Verletzungen so eigentümlich unterhaltsam.“ (190)

Und, um endlich auf die Eingangsfrage zurückzukommen, wie steht es um den „funkelnden Aphoristiker“, etwa im Sinne von Karl Kraus? Ein klares Nein. Mit der Feststellung, dass seine Aufzeichnungen im Kern mit dem Begriffspaar Wahrnehmung und (der antwortenden) Empfindung, anders gesagt: mit Beobachtung und Selbstbeobachtung getroffen sind, bewegen wir uns dann doch auch wieder in Zentralbereichen der Gattung. In der glücklichen metaphorischen Formulierung der Herausgeber: „Er will den Dingen zu einer Ausstrahlung verhelfen, die sie augenblicksweise aufleuchten lässt.“ (453) Kontextuell isolierte und konzise Prosa, wie das Literaturlexikon es fordert, sind sie ohnehin. Verweist das „augenblicksweise“ nicht auf Plötzlichkeit und Punktualität des Aphorismus, scheint im „aufleuchten“ (viel zutreffender als im „funkeln“) nicht seine Strahlkraft auf? Begegnet er vereinzelt nicht in seiner autoritativ generalisierenden, Widerspruch ausschließenden Form mit Signalen wie „niemand“ oder „irgendwann“ („Niemand kann so verstört schreiben, wie wir zu leben gezwungen sind.“, 181; „Irgendwann schlägt das falsch angefangene Leben in ein Schicksal um.“, 289), gar in der typisch aphoristischen Überspitzung: „Die Demokratie bringt den lächerlichen Staatsmann hervor.“ (159)? Erkennen wir hier nicht die Unbedingtheit, mit der er Forderungen stellt: „Die Beschreibungen sind endlich, die Erscheinungen sind unendlich. Und da das so ist, muss geschrieben werden.“ (20)? Durchweg handelt es aber nicht um solche kognitive Zuspitzung; was man hingegen durchweg beobachtet, könnte man Gefühlszuspitzung nennen: „Im Café: Auf Sahne beißen: ein Todesgefühl.“ (148); „Er spürte das Glück, langsamer leben zu können.“ (103) Und Pointierung? Sprachliche Pointierung mithilfe von beispielsweise Antithese oder Paradoxie keinesfalls. Aber will man Allaussagen wie den folgenden, die auf Größtes zielen, auf den „Körper“, das „Leben“, die sachliche Pointierung absprechen?

„Unser Körper liest immer mit, aber es ist nicht bekannt, was er versteht.“ (101)
„Wir sind nur für die Anfänge, nicht für die Fortsetzungen des Lebens geeignet.“ (187)
„Gelebt wird nicht während des Lebens; gelebt wird bei der nachträglichen Erzählung von Leben.“ (79)

Auch an speziellen Formen des Aphorismus fehlt es nicht, so am Er-Aphorismus, hinter dem sich nicht anders als bei Canetti der Autor selbst versteckt: „Er kämpfte darum, an die Wirklichkeit heranzukommmen.“ (80); „Er war fest entschlossen, aus seiner Hose ein Mysterium zu machen.“ (94); so an der aphoristischen Frage („Bemerken wir, wenn wir in unser Todesjahr eintreten?“ (137), an der poetischen Definition: „Das Glück ist fern und kalt wie ein Gebirgssee.“ (167) Und die Frage nach seinen nichtfiktionalen und fiktionalen Anteilen erledigt sich gleichfalls: „Schriftsteller, die genau beobachten, brauchen nicht erfinden. Die genaue Wahrnehmung ist die Erfindung.“ (93)

Wenn man also den Herausgebern auch für den „funkelnden Aphoristiker“ nicht folgen kann, ihre Überzeugung, dass die „Notate unabhängig von den Kontexten, in die er sie schließlich einbettete, eine eigenständige aphoristische Qualität besitzen“, darf man unbedingt teilen.

 

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