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Jürgen Wilbert über:
Vytautas Karalius: Wartesaal zur Ewigkeit – Aphorismen, Paradoxa, ironische Anspielungen, Lauterbach: Mergard 2021.

 

Der litauische Autor Vytautas Karalius, geboren 1931 in Klaipeda, ist 2019 in Vilnius verstorben. Prägend für sein Leben und Schreiben war die Tatsache, dass er als Litauer 51 Jahre Bürger der UdSSR war. Im Kommunismus wurde er von Jugend an auf eine bessere Zukunft vertröstet, so dass es nicht weiter verwunderlich ist, dass er das Warten nur allzu gut kannte und angesichts seiner eigenen Erfahrungen mit dem sowjetischen Regime nach einem Anglistik-Studium, einer Dozentur am Pädagogischen Institut in Vilnius und anschließender Tätigkeit als freier Schriftsteller und Übersetzer zum Satiriker wurde. Auf diesem Wege entdeckte er die Gattung des Aphorismus für sich. „Als beziehungsreich-einprägsames Gegenmedium zum politischen Slogan bot er die Möglichkeit, Kritik am real existierenden Sozialismus in Paradoxa und ironische Anspielungen zu kleiden.“ (aus dem Vorwort des Herausgebers Alexander Eilers, S. 12) Eine Auswahl seiner seit 1962 entstandenen Aphorismen hatte er selbst ins Deutsche übertragen. Es war übrigens der Lec-Übersetzer Karl Dedecius, der ihn zu einer Veröffentlichung in deutscher Sprache ermunterte. Doch es sollte noch viele Jahre dauern, bis das Buch 2000, rund zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetherrschaft, in Vilnius gedruckt wurde – unter dem bildhaft anregenden Titel „Endspurt der Schnecken“.

Anlässlich seines Todes am 15. Mai 2019 hat Alexander Eilers nun zu seinen Ehren einen „Geleitband samt Erinnerungsstücken“ zusammengestellt, „der den bis ins hohe Alter aktiven Literaten als eine der bedeutsamsten Stimmen im Osten wie im Westen präsentiert.“ (Vorwort, S. 15). Neben den „Memorabilien“ (u. a. diverse Briefwechsel, Rezensionen, Übersetzungslisten, Nachrufe) beinhaltet das Buch ausgewählte Aphorismen in fünf Kapiteln. Das erste Kapitel trägt den Titel „Planet der Geiseln“ und umfasst seine eher philosophischen und zeitkritischen Sinnsprüche: „Wäre die Welt vernünftig, gäbe es keine Geschichte.“ (S. 19) / „Die Zeit heilt alle Wunden, doch leider nicht die Zeitkrankheiten.“ (S. 21) Seine Sprachbilder sind verblüffend, ja verstörend wie erhellend zugleich, wie etwa in diesen aphoristischen Definitionen: „Leben: ein kurzer Sarg für das lange Nichtleben.“ (S. 21) Oder: „Die Steine schlafen so fest, als wäre die Erde ein Kopfkissen.“ Und: „Das Gedächtnis ist Bleistift und Radiergummi zugleich.“ (S. 24) Sie erinnern in einem gewissen Sinne an die skurrilen Metaphern und Bonmots von Gomez de la Serna (1888-1963). Das gilt auch für diesen Bildaphorismus in Frageform: „Sind wir nur ein Käfig für unseren inneren Affen?“ (S. 24)

Im nächsten Kapitel „Unsere eingespielten Rollen“ stehen thematisch die menschliche Persönlichkeit und ihre sozialen Beziehungen im Mittelpunkt. Karalius bevorzugt auch hier die verknappten Einzelsätze: „Persönlichkeit: Herr der Masken.“ (S. 27) / „Lächeln: die leichteste Rüstung.“ (S. 30) In Lec´scher Manier verwendet er das Kannibalen-Motiv: „Kannibalen aller Länder, es gibt noch Menschen!“ (S. 28) Bei Lec lautet die „Rechtfertigung der Kannibalen: Menschen sind Vieh.“

Dem dritten Abschnitt hat Karalius die Überschrift „Die Zukunft im Sack“ gegeben. Darin finden wir u. a. solche gesellschaftskritischen und politischen Anspielungen: „Im Grenzgebiet wird sogar das Echo zur Politik.“ / „So viele Spiele, dass sich das Brot erübrigt.“ / „Hohe Ziele verwandeln sich leicht in Wachttürme.“ (S. 33) Für seine Erfahrungen unter einer Diktatur hat er diese entlarvenden und überzeitlich gültigen Sentenzen gefunden: „Angst: der Heilige Geist der Diktaturen.“ (S. 34) / „Das Hauptargument der Gewalt ist sie selbst.“ (S.35) Und dann wieder solche metaphorischen Gedankenblitze: „Ein Ausrufezeichen ohne stramme Haltung kann leicht zum Fragezeichen werden.“ (S. 37) / „Freiheit der Spinne: das Netz.“ (S. 39) Der folgende Satz kann als prägnanter Leitsatz der Klimaaktivisten Wirkung entfalten: „Die Zukunft wird schon in der Gegenwart geplündert.“ (S. 38)

Die Abteilung mit den sprach- und literaturkritischen Kommentaren ab Seite 43 trägt den Titel: „Goldene Worte auf der Viehwaage“. Hier findet man diese Anmerkungen, die sich auch auf den Schreibstil und das Selbstverständnis von Karalius beziehen lassen: „Eine Metapher errät mehr, als ein Begriff begreift.“ (S. 43) / „Guter Stil – die vernünftige Nachbarschaft der Worte.“ (S. 45) / „Selbstzensur: Stacheldraht von innen.“ (S. 44) Zum Merkmal der Kürze gibt er zu bedenken: „Die echte Kürze: kein Wort zu viel, aber nicht zu Lasten der notwendigen.“ (S. 46) Im bildhaften Aphorismus zum Lorbeerkranz ist wieder eine geistige Verwandtschaft zu Stanislaw Jerzy Lec zu erkennen. Heißt es bei Lec: „Den Lorbeerkranz annehmen heißt das Format seines Kopfes verraten“, so bei Karalius: „Der Lorbeerkranz hängt hoch, damit man beim Hüpfen die Selbstachtung verliert.“ (S. 45) Und wie definiert er die Gattung mit Blick auf die mageren Rezeptionsbedingungen? „Der Aphorismus ist ein Kolibri der Literatur: für den Autor – ein Vogel, für die Kritik – ein Insekt.“ (S. 46) Im letzten Kapitel dreht sich alles mehr oder minder um das Thema der Freiheit bzw. Unfreiheit, und Karalius fragt sich und uns: „Ist die Freiheit nur ein Loch in der Zwangsjacke?“ (S. 49) Auch die Ehe bezeichnet er als „eine Zwangsjacke, die man nur gemeinsam ausziehen kann.“ (S. 50) Laut dem Nachwort von Hans-Horst Skupy, das die bezeichnende Überschrift „Archivar der Angst“ trägt, „verlegt er seine Ängste, seine Gefühle in die Sprache. […] Klagen und Ungerechtigkeiten werden von Karalius in Aphorismen transformiert.“ (S. 56) Wie selbstkritisch, ja pessimistisch er dabei mit sich selbst umgeht, belegt dieses Notat: „Zwischen zwei Übeln wähle das größte – dich selbst.“ (S. 49)

Verdienstvoll von den Herausgebern und Lektoren Eilers, Skupy und Turvold, dass sie mit dieser Textauswahl an einen großartigen, sprachgewaltigen Aphoristiker erinnern, der die meiste Zeit seines Lebens in einem totalitären System lebte und dessen Satz „Wut ist meine Tinte“ es war, „der ihn schreibend vorantrieb.“ (S. 87) Elisabeth Turvold würdigt sein Schaffen in ihrem Nachruf so: „Obwohl das Politische einen großen Raum in seinem Werk einnimmt, sind es gerade die im weitesten Sinne philosophischen Gedanken, die ich aus dem Lec´schen Schatten herauslösen.“ (S. 87) Vytautas Karalius möge in dieser Rezension mit einem mahnenden wie uns anspornenden Aphorismus (S. 49) das letzte Wort haben: „Nur die Augen sind ein Geschenk, den Horizont muss man sich erwerben.“

 

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