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Alexander Eilers über:
Späne von der Werkbank – Volker Brauns Handstreiche

Blühende Landschaften, wo einst Fabriken standen. Das ist die Welt, in die uns der schon zu DDR-Zeiten auf beiden Seiten der Mauer gelesene Dramatiker, Erzähler und Lyriker Volker Braun in seinen 2019 bei Suhrkamp erschienenen Handstreichen entführt. In drei Abschnitte aufgeteilt, dreht sich der 90 Seiten starke Band um den „Sinn und Unsinn der Arbeit“ sowie um das „Machwerk der Menschheit“, wobei die Kurzgeschichte „Die Flut in der Leidsestraat“ als Bindeglied zwischen den 2005–2007 und 2015–2017 entstandenen Hauptkapiteln dient.
Enthält das erste „Worte aus der Werkzeugtasche“, die zum zeitgleich verfassten Schelmenroman Machwerk. Oder: Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer (2008) gehören, so kommt es im zweiten zu „Ausschreitungen auf dem Papier“. Gemeinsam bilden sie eine Sammlung aphorismenartiger Kurztexte variierender Länge. Obwohl sie Vertrautheit mit der Form erkennen lassen, was die Bezugnahme auf klassische Gattungsvertreter wie Joubert, Rivarol, Kafka oder Benjamin beweist, handelt es sich bei ihnen nicht um „Maximen[, n]och weniger um Refexionen“ (S. 14). Stattdessen begreift sie der in fortwährendem Dialog mit seiner Romanfigur Flick stehende Autor mal als „Handgriffe, Fingerzeige, Rippenstöße“ (ebd.), mal – und hier darf man sich an einen fast gleichnamigen Band von Ulrich Erckenbrecht erinnert fühlen – als „Maximen und Moritzen“ (ebd.). Hinzu kommt, dass der bewusst auf die Genrebezeichnung ‚Aphorismen‘ verzichtende Buchtitel Peter Handke entlehnt wurde (vgl. S. 34), der sich in seinem Gedankentagebuch Am Felsfenster morgens (1997) in ähnlicher Weise von der moralistischen Tradition distanziert hat: „Maximen und Reflexionen? Nein, eher Reflexe; Reflexe, unwillkürliche, gleichwohl bedachtsame; Reflexe, die aus einer Bedachtsamkeit kommen, einer grundsätzlichen, und in deren Folgen hin und wieder ausschwingen, auch ausschwingen wollen, über den bloßen Reflex hinaus, soweit der Atem reicht.“
Was Braun vorlegt, sind also keine Gedankensplitter, sondern Späne von der Werkbank. In mehrfacher Hinsicht als ‚aufhebenswert‘ erachtet, dokumentieren sie zum einen die Arbeit an einem größeren literarischen Projekt, zum anderen die Suche nach neuem Erzählstoff: „Einen großen Satz machen, über das Ende der Zeile hinaus. In eine andere Geschichte“ (S. 25). So kommt es nicht von ungefähr, dass Meister Flick, ein umtriebiger, unfreiwillig in den Ruhestand versetzter Tagebau-Dispatcher aus der Niederlausitz, zu Brauns Alter ego avanciert: „Kohlevorkommen, Sprachvorkommen: die Ausbeute“ (S. 14). Denn wie dieses ‚Arbeitstier‘, das bei Havarien „ruhig Hand anlegt[e]“ (S. 10), um die Bagger, Eimerketten und Förderbänder wieder zum Laufen zu bringen, erträgt es der Georg-Büchner-Preisträger von 2000 nicht, wenn etwas stehen- oder liegenbleibt – sei es das eigene Werk, sei es der Umbau der Gesellschaft. Entsprechend gibt er in Handstreiche nicht nur eine Anekdote wieder, in der ihn sein Altersgenosse Handke – auf einer Treppe hockend – mit der rückhaltlos-doppelbödigen Frage „Was fangen wir nun an?“ (S. 58) konfrontiert. Vielmehr geht der Verfasser auch auf die Motive seiner „Unrast“ (S. 36) ein: „Das Verändernwollen! Damit dann Ruhe ist. Die bessere Welt. Das ganze Treiben aus Trägheit, Bequemlichkeit“ (S. 36).
Hatte er aber noch Mitte der siebziger Jahre, z.B. in der Notatesammlung Es genügt nicht die einfache Wahrheit (1975), von der ‚arbeitenden Geschichte‘ gesprochen, in der sich der „entfremdete Mensch“ (Marx) weniger als Produkt denn als Produzent der sozialen Umstände wähnen durfte, so ist nun – nach dem Fall der Mauer – Ernüchterung eingekehrt. In der von Stilllegung und Abriss beherrschten „Folgelandschaf[t], und -gesellschaf[t]“ (S. 14) fühlt er sich Braun ebenso nutzlos wie die Titelfigur seines Romans: „Wir stehen an der Abbruchkante der Geschichte. Unsere Erfahrung: die Verwerfung“ (S. 12). Obwohl die „Apparatur“ der beiden „soweit in Ordnung [ist]“, sind sie „moralisch verschlissen“ (S. 22), weshalb sie sich als „alt[e] Narren“ (ebd.) nach Zeiten zurücksehnen, in denen Widersprüche noch Hoffnungen und Utopien noch Oasen waren: „Wir kannten nützliche und schädliche Arbeit und wußten beizeiten, aber zu spät zu unterscheiden. Seit aber die Proteste verraucht sind wie der Staat und alle seine Zeichen, wird das Elend gewürdigt als Naturereignis. Man schuckt den Dreck und nimmt das Gift“ (S. 16). Doch bei allen Gemeinsamkeiten existieren auch Unterschiede zwischen ihnen. Nicht nur, dass der Autor um die unüberbrückbare Kluft von Hand- und Kopfarbeit weiß: „Flick bringt die Sache in Ordnung, ich bringe sie durcheinander. Er sucht die Teile zusammen, ich die Gegenteile. Paradox!“ Seiner Solidaritätsadresse an die Werktätigen ist ebenfalls das schlechte Gewissen beigemischt, als Schriftsteller nicht aktiv am Traum der „andere[n] Arbeit“ (S. 16) mitgewirkt zu haben: „Flick machte, wie wir wußten, nicht viel Worte. Darin war er Meister. Wir redeten natürlich zu viel, ganze Sätze. Wir Stifte“ (S. 62).
Ob jedoch der marode Arbeiter- und Bauernstaat zu erneuern gewesen wäre, wenn Braun die Feder gegen eine Werkzeugtasche eingetauscht hätte, ist zu bezweifeln. Schließlich herrschte im Osten kein Mangel an Produktivkräften, wohl aber ein Mangel an Produktionsmitteln, so dass alle Eingriffe in das System „Reparaturen, Flickwerk, Rettungsversuche der unheilen Welt“ (S. 15) geblieben wären. Zwar ehrt es Braun, dass er sich „in Wendezeiten“ als „Grader“ (S. 17 ) erwies – besonders, als er in seiner Elegie „Das Eigentum“ (1990) den Exodus aus den Neuen Bundesländern mit den vielzitierten Worten „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen / KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN“ beklagte –, doch sind viele seiner Handstreiche keine „überlegte Handlungen“ (S. 34), sondern ‚ostalgische‘ Reminiszenzen: „Was denn für ein Hunger? Wir hatten andere Appetite, als man mit einer Banane abspeist“ (S. 17). Zu kritisieren ist ferner, dass er sich trotz seines hohen stilistischen Niveaus den einen oder anderen Kalauer erlaubt – „Was war meine Schuld? Ein Leben in Saus und Graus (S. 30) –, dass er zusammengehörige Reflexionen ohne Not typographisch auseinanderreißt – „In meinem ersten Raum war ich glaubenslos. Ich vertraute. Da war ich selig. // Als ich gläubig war, war ich gottverlassen“ (S. 67) – und dass er in Palimpsesten wie „Von einer Aufgabe träumen. Mitten im Unterricht“ (S. 82) deutlich hinter dem Beziehungsreichtum der Vorlage zurückbleibt: „Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit“ (Franz Kafka).
Aus aphoristischer Sicht bieten die Handstreiche daher wenig Bemerkenswertes. Zu sehr sind die enthaltenen Beiträge mit dem Machwerk-Roman verflochten, als dass sie ihren äußeren Zusammenhang vergessen machten. Im Zeitpolitischen verhaftet, erreichen sie nur selten die „Form der Ewigkeit“, die Friedrich Nietzsche zum Qualitätsmerkmal der Sentenz erhoben hat. Und so bleibt zu befürchten, dass selbst allgemeingültige Einzeiler aus dem vorliegenden Band dasselbe Schicksal ereilt wie die abgewickelten, von Flora und Fauna zurückeroberten DDR-Kombinate: „Natürlich bleibt nichts. Nichts bleibt natürlich“ (S. 89).

 

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