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Jürgen Wilbert über:
Stefan Hölscher: denk/mal/frei – Sauschlaue Sprüche und renitente Reflexionen. Geest-Verlag: Vechta 2021
Der Autor, geboren in Hildesheim – ein Datum ist nicht angegeben – scheint ein Tausendsassa zu sein, wenn man die Kurzbiographie auf dem Klappentext liest: „arbeitet als Managementcoach, psychologischer Berater, Moderator, Sachbuchautor, Lyriker, Aphoristiker, Essayist und Literaturkritiker.“ Studiert hat er Philosophie, Psychologie, Literatur-wissenschaft. Nach zahlreichen Veröffentlichungen legt er hier einen 99 Seiten umfassenden Band mit Aphorismen und Sprüchen vor. An Selbstbewusstsein mangelt es dem Autor offensichtlich nicht, nennt er seine Sprüche doch „sauschlau“. Im Interview mit sich selbst bezeichnet er sich als „nicht rein heterosexuellen Mann“ und outet sich als Begründer einer neuen Gattung, nämlich des „queeren und schwulen Aphorismus“. (S. 98) Jedenfalls gibt es ein eigenes Kapitel mit dem Titel „Sex mal Liebe“. Darin finden sich zum Teil renitente sowie obszöne Aussagen, aber auch sehr persönliche Bekenntnisse: „Meine Form von Treue: ich kann mit 1000 Männern Sex haben, aber ich liebe nur eine Frau.“ (S. 37) / „Ich begehre, also bin ich.“ (40) Da lesen wir aber auch diese hier nicht erwartete Definition: „Familie ist, wo Liebe ist.“ (42)
Das Buch ist thematisch gegliedert in 15 Kapitel, u.a. mit diesen Überschriften „1: Denk mal frei“, „4: Charakter nach Maß“, „12: Trick in Politik“ und „15: Der letzte Aphorist“. Hölscher bevorzugt als Stilmittel das Konträre und Paradoxe, so in Kapitel 1: „Wer Logik sät, wird Mystik ernten.“ / „Je mehr die Komplexität sich steigert, desto mehr nähert sie sich der Trivialität.“ (9) Und: „Ein vollständiges Verstehen kann es schon deshalb nicht geben, weil bereits der Begriff der Vollständigkeit vollkommen lückenhaft bleibt.“ (8) Anmerkung: Wieso der Begriff? Ist es nicht vielmehr das Streben danach?
Des Öfteren stoßen wir auf Variationen von eines Sprichworten und Redensarten: „Wer die Gefahr sucht, kommt darin um. Wer sie zu vermeiden sucht auch.“ (12) / „Leute, die pausenlos geistreich sein müssen, rauben einem den Verstand.“ (25) In Kapitel 3 „Entscheidend getroffen“ stoßen wir auf diese ungewöhnliche aphoristische Definition von Freiheit: „Freiheit ist das Vermögen, die fortschreitende Versklavung an die eigenen Obsessionen mit geistreichen Kommentaren zu begleiten.“ (18) Stellt das womöglich für Hölscher ein zentrales Motiv fürs Schreiben dar? Einen philosophisch hintergründigen Denkanstoß stellt diese prägnante Sentenz dar: „Das Eigentliche ist immer das Andere.“ (20) Im Kapitel 4 dreht sich alles um Identität und die persönliche Entwicklung: „Ein Leben lang >ich< zu sich zu sagen, erzeugt die Illusion, es ginge um dieselbe Person.“ (22) / Hier als anschauliches Wortspiel: „Mancher entwickelt sich so, dass man ihn am liebsten schnell wieder einschnüren möchte.“ (24)
Zu einem Lieblingsthema der Aphoristik, der Lebenskunst, steuert er sowohl banale Einsichten als auch geistreiche Reflexionen bei. Man vergleiche nur diese beiden Textbeispiele miteinander: „Der Mensch ist, was er isst. Sind wir deshalb so giftig geworden?“ (31) / „Wer Fülle sucht, muss Stille finden.“ (32) Wer Kalauer sucht, wird auch fündig, zum Beispiel dieser Reim: „Angesichts der absehbaren Endlichkeit ist die ewige Jagd nach Ruhm einfach ein wenig duhm.“ Zum Thema der Begegnungen erläutert er einerseits zu ausgiebig den Sinn seiner Gedankengänge, andererseits ist die Aussage zu selbsterklärend: „“In jeder gelingenden Begegnung begegnen wir dem anderen ebenso wie uns selbst.“ (46) Wir treffen aber auch auf solch eine tiefenpsychologisch spannende wie traurige Erkenntnis: „Der verhasste Mensch absorbiert mehr von unserer Energie, als wir dem geliebten Menschen je schenken könnten.“ (47) Im Kapitel 8 über „Rede-, Schreibe-, Lesespaß“ äußert setzt sich Hölscher zeitkritisch wie folgt mit der „Netzdemokratie“ auseinander: „Wahre Worte sind so gut wie falsche.“ (51) Die gendergerechte Schreibweise nimmt er in ironischer Zuspitzung auf die Schippe: „Wenn die Autor*innen endlich auch ihre Aphorisminnen gendergerecht erstellten, gäbe es weniger Unbehagen beim Lesen von die selbig*innen.“ (53)
Im Kapitel „Dicht mal was“ definiert der Autor Kreatives Schreiben als „eine fragile Balance aus den Elementen Muße, Spiellust, Ausdruckbedürfnis und Verzweiflung“ und behauptet: „Wenn eines davon sich dominant in den Vordergrund schiebt, aber ebenso auch wenn eines davon gänzlich fehlt, geht der Kreativität die Puste aus.“ (56) Hat er da nicht als grundlegende Voraussetzungen die Freude am Schreiben und das Ausdrucksvermögen vergessen? Seine eigene Dichtung kommentiert er übrigens selbstkritisch: „Bei mir wird jedes Gedicht Klamauk. Die komisch gemeinten und die anderen auch.“ (57) Geradezu um das unter Beweis zu stellen, lesen wir im Kapitel 10 „Veränderung macht Mut“ diesen lapidaren Reim: „Veränderung um jeden Preis ist auch nur Scheiß.“ (62)
Zum Thema des Alters sind dem Autor sehr gelungene Aphorismen eingefallen: „Die graue Angst vor dem Tod kreiert die bunten Spiele des Lebens.“ (82) / Hier metaphorisch: „Wer die Einheit für das Gewicht eines Tages gefunden hat, ist dem Rätsel des Lebens einen deutlichen Schritt nähergekommen.“ (81) Im 14. und vorletzten Kapitel über die Natur bringt Hölscher seine Gedanken auf diesen gemeinsamen Nenner: „Das Einfache überlebt.“ Im letzten Kapitel setzt er sich kritisch mit der Gattung des Aphorismus auseinander: „Mit dem Wort >manchmal< beginnen meistens Aphorismen, die man immer auch vergessen kann.“ (88) / „Ein Spruch, der keinem weh tut, tut auch keinem gut.“ (89) Zum Prinzip des Widerspruchs: „Dass man absolut stimmig alles und immer auch sein Gegenteil behaupten kann, macht den Aphorismus zu einer ausgesprochen lebensnahen Angelegenheit.“ (88) Schlussendlich könnte man diese Zeilen (S. 90) ohne weiteren Kommentar als eine Anspielung auf unser Deutsches Aphorismus-Archiv (www.dapha.de) verstehen: „Aphorismen. Die meisten wissen gar nicht, dass sie existieren. Andere glauben, man müsse sie archivieren. Das Schönste aber ist, sie lang und laut im Mund zu goutieren.“
Als Resümee ist festzuhalten: Dieser Band mit insgesamt über 300 Aphorismen bzw. Sprüchen bietet die ganze Palette von Stimmungslagen von albern, witzig, bis tiefsinnig und provokant, mitunter gleiten die Texte aber ab ins Triviale, Kalauernde und Obszöne. Bisweilen stören Passagen mit ausschweifender Belehrung, vor allem in den Texten über die Psychotherapie (64). Wirklich renitente, ja provokativ gesellschaftskritische Aphorismen enthält das 12. Kapitel über Politik, beispielsweise: „Moralisch sauber zu bleiben ist gar kein Problem – wenn man einen hat, der die Drecksarbeit macht.“ (71) Und möglicherweise auch in Richtung der GangsterRap-Texte: „Islamistic Haircut: Wer anders denkt als definiert, bekommt den Kopf mal frisch rasiert.“
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