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Prof. Dr. em. Hans-Werner Kuhn über:
Friedemann Spicker und Jürgen Wilbert: Aphoristisches Schreiben. Leitfaden mit kreativen Übungen. Edition Virgines, Düsseldorf 2021

 

Der Appetit kommt beim Essen. Dies ist kein Aphorismus.
Der Appetit auf Aphorismen kommt beim Lesen dieses Buches, aber vielleicht auch beim Versuch, die kreativen Aufgaben zu bearbeiten. Das Buch beruht auf den Erfahrungen mit autobiographischer Selbstreflexion, mit zahlreichen Schreibwerkstätten (seit 1984) mit Jugendlichen/Schüler/innen und Erwachsenen. Zwei Autoren haben sich zusammengefunden, beide repräsentieren unterschiedliche Profile und Schwerpunkte. Dennoch verkennt Schwarz-weiß-Denken die Idee des Buches ebenso wie dessen Gegenstand: den Aphorismus, der sich in der Schwebe hält.
Das kommt der methodischen Vielfalt des Leitfadens zu Gute. Gleiches gilt für den Themenspeicher. Man merkt den über 200 Seiten die breite Grundlage an.
Das beginnt bei den Zugängen zu dieser Kunstform: Definitionen, Charakterisierungen/Merkmale und Beispiele verweisen darauf, dass Aphorismen nicht nur kurz, sondern auch pointiert, provokativ und kontrovers sein wollen. Der Kontext fehlt. Besonders mit dem Merkmal „kurz“ wird gespielt: Die Annäherungen daran verknüpfen Arbeitsvorschläge („Kürzen“) mit Lösungsvorschlägen und eigenen Ideen.
Das didaktische Grundkonzept unterscheidet durchgängig zwischen Grundstufe (Kap. 1 bis 10) und Aufbaustufe (Kap. 11 bis 17). Konsequent erfolgt die Binnenstrukturierung in „etwas“ Theorie/Literaturwissenschaft und vielen kreativen Übungen. Wenn man sich als Leser/Leserin dazu „zwingt“, einen Teil dieser Aufgaben zu bearbeiten, hat man wahrscheinlich am meisten gelernt und erfahren.
Die Arbeitsvorschläge sind bewusst begrenzt gehalten, keine Besinnungsaufsätze. Aus dem reichen Repertoire an Aphorismen aus Geschichte und Gegenwart werden Impulse benannt, die nach der subjektiven Motivation weitergeführt werden können. Das ist durchgängiges Prinzip aller Kapitel und wird am Ende des Buches nochmals in Aufgaben und Lösungsvorschlägen „verdichtet“. Hierbei klären sich quasi wie von selbst die Bauprinzipien von Aphorismen (u.a. Umkehrung, Weiterführung, Verdichtung, Abgrenzung, Vergleich). In den Anwendungsbeispielen zeigt sich das Spektrum von spontanen Ideen bis zu reflektierenden (philosophischen) Erkenntnissen. Auch das Bildhafte stellt ein zentrales Element dar (69f.).
Als Metapher könnte man daraus schließen, dass der Weg zum Aphorismus lang und komplex ist. Er selbst ist eine Irritation, die auf Selbst-Denken zielt. Vom Leser/der Leserin wird Verstehen verlangt, man könnte von hermeneutischer Gedankenarbeit sprechen, die unterschiedliche Lesarten generiert. Der Weg zum Aphorismus und der nach der Lektüre ist also komplex. Es gilt, den Kontext des Verfassers zu rekonstruieren, aber auch eigene Erfahrungen damit zu verbinden (vgl. 214). Am Beispiel von Songtexten aus der Popmusik wird die Nähe zum Aphorismus verdeutlicht: sowohl englische (Bob Dylan, Literaturnobelpreis 2017; Leonard Cohen, Beatles u.a.) wie deutsche Lieder (Grönemeyer, Reinhard Mey, Udo Lindenberg u.a.) enthalten Sprachbilder, Zuspitzungen und Umkehrungen, die „aufgelöst“ werden können.
Damit zeigt sich eine Stärke des Buches: zum Einen das breite Spektrum als Angeboten für den Leser/die Leserin, zum Zweiten die anregende Auswahl und Erläuterung der Stilmittel. Hinzu kommt neben dem individuellen Formulieren von Aphorismen auch der Austausch in Schreibwerkstätten (s. Einleitung).
Ohne die Kapitel im Einzelnen zu thematisieren, erscheint die Auseinandersetzung mit Wortspielen fruchtbar (Schiller: „Der Mensch ist nur dort ganz Mensch wo er spielt“), aber auch die kritische Analyse der Flut von Sprüchen und Sätzen aus Medien, Werbung, politischen Plakaten, Politik usw. dient dem eigenen spielerischen Umgang mit Sprache.
Aufbaustufe fokussiert die Frage nach dem „Machen“ eines Aphorismus. An literarischen Texten werden die Entstehung und Veränderung von Beispielen aufgezeigt. Das Verhältnis von Inspiration und Handwerk wird thematisiert, ohne dass man es analytisch aufklären könnte.
Dieser Hinweis führt frontal zum zentralen Merkmal des Buches: die Sprache hat eine unernste, selbst-ironische Leichtigkeit, sowohl in den Erläuterungen wie in den Beispielen und Aufgaben („Der Aphorismus ist … die Domäne alter Männer.“ Allerdings soll diese Regel vom Leser/von der Leserin gebrochen werden; vgl. 128). Alles Dogmatische und Zwanghafte wird außen vorgelassen. Nicht belehrend zu sein, zählt in einem „Leitfaden“ zu den Herausforderungen, die die beiden Verfasser dem Genre entsprechend bewältigt haben. Form und Inhalt „passen“.
An einigen Stellen wird es politisch: wenn es gegen „landläufige Meinung“ geht, um politisch Inkorrektes, um freie Meinungsäußerung usw. Hier sind Werturteile, Weltanschauungen, Corona, Provokationen immer kritisch und kontrovers. Das Selbst-Denken wird angestachelt.
Übrigens: Die Bilder der drei Künstler sind nicht nur „Beiwerk“, sondern Impulsgeber für Texte und Aufgaben.
Damit aus dem Leitfaden kein Leidfaden wird, sollten Sprach- und Aphorismus-Interessierte sich das Buch „vornehmen“, um daran ihre eigene aphoristische Kompetenz zu „schärfen“.

 

Prof. Dr. em. Hans-Werner Kuhn
(Berlin / ehemals Pädagogische Hochschule Freiburg)

 

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