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Friedemann Spicker über:
Norbert Wokart: Mitropolis. Aufzeichnungen eines Fremden. Würzburg: Königshausen und Neumann 2024.
C’est la vie. Eine Fragmenten-Biographie. Würzburg: Königshausen und Neumann 2024.

 

Man könnte den 1941 geborenen Tübinger Autor Norbert Wokart am ehesten als Aufzeichner beschreiben, ungeachtet der Tatsache, dass er auch promovierter Philosoph, Essayist, Epigrammatiker und Erzähler ist. Seit 2005 sind mehr als ein Dutzend Bücher von ihm erschienen, die als „Aufzeichnungen“ firmieren und die die Möglichkeiten dieser modernen, offenen literarischen Kleinform weit und von Mal zu Mal in verschiedener Weise ausschreiten. Die extremen Pole dabei bilden einerseits das weitestgehend klassisch-aphoristische „Treibgut“ (2005) und andererseits „Odysseus oder Die Sehnsucht“ (2013), das eine solche Fülle literarischer Gattungen vereint, dass ihm ein Verzeichnis der Geschichten, Essais und Gedichte“ beigegeben ist, die in die aphoristischen Aufzeichnungen eingefügt sind. Die Abstände der „aufgezeichneten“ Zeiträume zur Publikation werden dabei immer enger: von „Schilfrohr. Aufzeichnungen 1981-2006“ (2007) bis „Der Blick ins Weite. Aufzeichnungen 2021-2022“ (2022).

In diesem Jahr legt Wokart gleich zwei neue Bände vor, die im gewohnten formalen Rahmen bleiben, aber dabei doch neue Wege beschreiten. „C’est la vie“ nennt er in der Vorbemerkung mit Jean Paul eine Fragmenten-Biographie. Auch indem er die aphoristische Struktur der Erinnerungen (5) beschwört, bleibt er ganz in der Nähe der Gattung. (Es läge auch nahe, das Anekdotische mit seiner Verbindung von erzählter Begebenheit und pointierter Äußerung, dem Miteinander von epischen und gnomischen Anteilen, heranzuziehen.[1]) Die aphoristische Struktur ist freilich zunächst nur typographisch verwirklicht; das Imperfekt und die kontinuierliche autobiographische Entwicklung von Kindheit und Schule über die Universitätszeit und die „flatterhaften Jahre“ (60) mit diversen erotischen Erlebnissen bis zu den Reisen, in denen sich seine „Gelegenheitsexistenz“ (106) recht eigentlich verwirklicht, sprechen deutlich dafür. Besonders Griechenland wird ihm dabei zur „zweiten Heimat“ (47). In dem Maße, in dem in den Jahren des Alters Erzählzeit und erzählte Zeit enger zusammenrücken, ändert sich der stilistische Charakter, schon am Tempus (Präsens) der unverbunden nebeneinanderstehenden Spots oder Bilder oder eben Anekdoten abzulesen. Jetzt verbindet sich mit der Feier des Lebens, wie sie aus den Aufzeichnungen durchgängig spricht, ein melancholischer Alterston, der den Beeinträchtigungen und Krankheiten dieser Jahre entspricht. „Es wird richtig ernst“ (193) und „Geschenkte Jahre“ (206), so heißen die Kapitel, der Tod wird mit selbstironsicher Freiheit in den Blick genommen: „Ich bin gespannt, wie ich mein Sterben erleben werde.“ (205) Der wunderschöne letzte Satz möge diesen späten Ton des Buches veranschaulichen: „Über die Wimpern der Jahre streicht immer ein unbegreiflicherer Wind. Und das Leben und die Liebe, wie still sind sie mit ihm verweht!“ (217)

Wie in allen Büchern Wokarts so ist auch in „Mitropolis“, dem zweiten Band, das autobiographische Element unverkennbar. Dieser „Fremde“ teilt mit dem Autor neben den beiden entscheidenden Referenzsystemen, der Antike und der Literatur, allzuviele Eigenschaften: die des Reisenden, des Philosophen und Professors, des Literaturkenners und des Schriftstellers: eines älteren hoch Gebildeten, der noch jemandes im Genitiv gedenkt. Abstand und Nähe zur Person des Autors sind aber anders als im vorigen Band zu werten; Fiktion und Faktualität schillern. Die Stadt (Athen), die mit drei Unterbrechungen seinen interimistischen Lebensraum darstellt, wird eigentümlich vage gehalten. Die Ambivalenz von Heimat und Fremde, speziell das (Nicht-)Dazugehören, bestimmt das Lebensgefühl dieses Fremden, der seine Tage in einer Mischung von Erinnerung, Beobachtung und Reflexion verbringt, in der Perikles und die Spatzen (23) nebeneinander stehen, in der er am Beispiel des Taxus unversehens eine Lebensbilanz zieht: „Vieles ist giftig, weniges zuträglich.“ (25) und auch gerade die kleinen Dinge, etwa Netze (28) oder (mit Lichtenberg, Sudelbuch E 35) Röhren (26), durch aufzeichnende Beachtung eine Aufwertung erfahren. Die Leserin oder der Leser vollzieht sie in bereitwilliger Übereinstimmung nach, Stimmung buchstäblich genommen, wie überhaupt das schwer zu fassende Atmosphärische den Reiz des Bandes ausmacht. Regelrechte aphoristische Ein-Satz-Einsprengsel sind dagegen selten. Aktuelle Hinweise, so auf den toten Bootsflüchtling (49) oder die Ereignisse in Palästina (52), brechen das möglicherweise Eskapistische dieser Existenz, die den Notwendigkeiten des Lebens enthoben ist, brutal.

Ein spezielles Wort zum Aphoristiker Wokart ist an dieser Stelle unabdingbar; es muss aber im Rahmen einer Rezension bei einem kurzen exemplarischen Hinweis auf das frühe „Treibgut“, die selbstreferenziellen Aphorismen in „Vor dem Schiffbruch. Aufzeichnungen 2013-2014“ (2015) oder die Aphorismen in „Der Blick ins Weite“ ( 2022) bleiben.[2] (Ein Überblicksaufsatz über das ganze Aufzeichnungswerk ist ein dringendes Desiderat.) Allein sein Verhältnis zu Lichtenberg, von dem er vielfach Kunde gibt, wäre eine kritische Sichtung wert. Neuere Aphorismusanthologien zeugen im Vergleich seines Werkes mit dem seiner Zeitgenossen davon, dass er sich auch auf diesem Feld, das er mit seinen Aufzeichnungsbänden in der Regel formal dehnt oder überschreitet, in der vordersten Linie behaupten kann.[3]

 

[1] Es steht in der Gattungsgeschichte ja vielfach in Verbindung zum Aphorismus, so in Anmerkungen von Goethe bis Ernst Bertram, besonders deutlich auch schon bei Chamfort („Maximes et Pensées, Caractères et Anecdotes“ (1795); vgl. A. W. Schlegel: „Chamfort hatte die Gewohnheit, täglich Aphorismen […], Anekdoten und Charakterzüge, […] witzige Reden von ihm selbst oder von andern auf Zettel zu schreiben […]“ (A. W. Schlegel: Kritische Schriften. Zürich, Stuttgart 1962, S. 323f.).

[2] Dabei können sich dann zum Beispiel überraschende Übereinstimmungen ergeben, etwa wenn er Kafkas Zürauer Aphorismen dieses Etikett dezidiert abspricht, weil sie Kommentare erforderten; es seien Aufzeichnungen (49), ganz wie Ingold kürzlich: Felix Philipp Ingold: Kafkas unvollendete Aphoristik. Eine kritische Revision. In: Friedemann Spicker, Jürgen Wilbert (Hrsg.): Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen im Aphorismus. 10. Aphoristikertreffen in Hattingen. Fachbeiträge • Aphorismen • Illustrationen. Dokumentation zum 10. Internationalen Aphoristikertreffen vom 25. bis 26. Mai 2024 im Stadtmuseum Hattingen / Ruhr. Mit Illustrationen von Marlies Blauth. Düsseldorf: Virgines 2024, im Druck.

[3] Alexander Eilers, Tobias Grüterich (Hrsg.): Neue deutsche Aphorismen. Erweiterte, überarbeitete Neuauflage. Dresden: Azur 2014, S. 107; Friedemann Spicker, Jürgen Wilbert (Hrsg.): Deutsche Aphoristik der Gegenwart. Eine aktuelle Bestandsaufnahme. Mit Bildern (Mixed Media) von Razeea Lindner. Düsseldorf: Virgines 2023 (dapha-drucke 14), S. 26-30.

 

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