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Jürgen Wilbert über:
Michael Richter: Spiegelungen – Aphorismen à la Carte. Norderstadt: BoD 2023.

 

Mit „Spiegelungen“ legt der Aphoristiker Michael Richter, geboren 1952 in Berlin, seinen siebten Aphorismen-Band vor. Der Autor hat Evangelische Theologie in Ost-Berlin sowie Geschichte und Politik in Hannover und Bonn studiert, mit Promotion zum Dr. phil. 1989 in Bonn. Der neue Band umfasst sage und schreibe über 2000 Aphorismen, darunter auch eine Anzahl aus den bisher erschienenen Büchern. Aphorismen, Bonmots und Sprüche von ihm sind auch in diversen Anthologien veröffentlicht worden. Vorab: Bei einer solchen Fülle von zumeist aphoristischen Einzelsätzen fällt es dem / der Lesenden schwer, hier nicht den Durchblick zu verlieren, in jedem Falle ist die Lektüre anstrengend und verlangt Durchhaltevermögen. Ich rate daher zu konsequent dosiertem Lesen, sozusagen zu einer „Lektüre á la Carte“, bei der man nicht den Appetit auf weitere „Lesehappen“ verliert. Zur besseren Orientierung verhilft die detaillierte thematische Gliederung des Inhalts. Wir finden dort die gesamte Bandbreite von philosophischen und gesellschaftlich-politischen Themen, mit denen sich Aphoristiker seit jeher befasst haben; dazu zählen zum Beispiel die Kapitel „Denken, Verstehen, Freiheit und Wille“, „Gott, Glauben und Religion“, „Politik, Justiz, Frieden und Krieg“.

Im Buch sind am Ende elf durchweg positive Kritiken seiner Vorläuferbände abgedruckt. In einer der Kritiken wird Richter gar mit Lichtenberg verglichen (Markus Bundi, Aargauer Zeitung vom 7. 1. 2008), Michael Wollmann bezeichnet ihn als einen „der ganz großen Aphoristiker“ (auf S. 248). Und Karin Ehlermann kommt in ihrer Rezension zu diesem Urteil: „Wir halten diesen hochreflektierten Autor für einen der derzeit besten deutschsprachigen ´Sentenzenschleifer`.“ (S. 249)

Nach meiner Lektüre des neuen Bandes kann ich diesen uneingeschränkt positiven Einschätzungen nicht ganz zustimmen. Zugegeben: Es sind in Richters besten knappen und scharfzüngigen Einzelsätzen aphoristische Glanzstücke dabei, doch man muss diese „Perlen“ beim Tauchen innerhalb des riesigen „Wortozeans“ erst einmal heben. Hier einige gelungene Beispiele: „Frieden macht uns verletzlich, Kriege verletzen uns.“ (225); „Globales Denken wirkt in der Milchstraße provinziell.“ (41); „Geheimnisse werden gehütet, Lügen laufen frei herum.“ (102) Eine seiner eigenen Definitionen der Gattung umschreibt wohl auch seine eigene Intention beim Schreiben: „An der Wortfront finden Aphorismen als Sprengsätze Verwendung.“ (50) Und von dieser zündenden Sorte finden wir in den „Spiegelungen“ eine Menge. Als „tiefste Erniedrigung eines Aphorismus“ empfindet es der Autor, wenn er „als Losung missbraucht (wird).“ Zudem merkt Richter selbstkritisch an: „Aphorismen werden mit Gewinn gelesen, aber mit Verlust produziert.“ (51)

Richters neue Publikation umfasst alle Aspekte, Strukturmerkmale des Aphorismus: etwa metaphorische, konträre, ja paradoxe Sinnzusammenhänge, die gedanklich wie sprachlich nach Auflösung bzw. Aufhebung streben. Bisweilen ist dabei der Wortspieltrieb ausgeufert: Wir finden gehäuft Abwandlungen von Worten und Redensarten, so wie in diesen tiefsinnigen Beispielen: „Im Krieg gehören Minen zum bösen Spiel.“ (226) Und: „Im Krieg wohnt man besser ab vom Schuss.“ (227) Es gibt aber auch eher banale oder auch kalauernde Kürzesttexte: „ Gestorbene kommen in den Himmel, Geschlachtete in die Pfanne.“ (143); „Am Ende wird die Ehe zum Trockenstrauß.“ (137) Oder. „Für den Tod sollte man rechtzeitig vorsargen.“ (142) Und ebenfalls wenig überzeugend ist dieser Neologismus: „Die Folge der Informationsgesellschaft ist eine zunehmende Abmerksamkeit.“ (182) Im Gegenzug wird man aber auch auf viele sehr originelle und bedenkenswerte Aphorismen stoßen, wenn man Durchhaltevermögen bei der Lektüre aufbringt; als Beispiel für eine gelungene Wortneuschöpfung sei auf diesen Text verwiesen: „Neue Maßeinheit für Verkehrsdichte: Gefahrenheit.“ (213) Dessen ungeachtet, in einigen Themenfeldern sind einfach zu viele „Sprengsätze“ aufgereiht, die inhaltlich und sprachlich sehr ähnlich formuliert sind, so unter anderem unter der Rubrik „Eigenschaften und Miteinander“ (S. 163-188). Aber vielleicht meint Richter genau das mit seinem Titel „Spiegelungen“: nämlich verschiedene subjektive Kommentare und Variationen zu einem Themenfeld – etwa auf S. 166 diese beiden Sätze unmittelbar nacheinander: „Ignorieren kann man nur aus der Nähe.“ Und: „Viele Menschen werden nicht mal ignoriert.“ Eine Aufteilung von weniger Aphorismen pro Seite (mit Spielräumen / Besinnungspausen dazwischen) wäre meines Erachtens lesefreundlicher.

Richter liebt als Aphoristiker sowohl die humorvolle Note als auch den Überraschungseffekt, man beachte solche wortwitzigen wie erhellenden Schlusspointen: „Kannten Sie die DDR? Ja, flüchtig.“ (233); „Wir nehmen uns beim Wort, nicht beim Gedanken.“ (42) Bei Anwendung der Stilfigur des Chiasmus erscheinen mir die Aphorismen mitunter wenig überzeugend, da sie arg konstruiert daherkommen; man vergleiche nur diese beiden: „Die Verärgerung öffentlicher Erregung gilt als Erregung öffentlichen Ärgernisses.“ (220); „Besser man kann, was man nicht darf, als dass man darf; was man nicht kann.“ (221)

Wie bei manch anderen ähnlich umfangreichen Aphorismenbänden trüben eher durchschnittliche Texte den Gesamteindruck; dennoch sind Richters „Spiegelungen“ Aphorismenfreunden und –freundinnen in jedem Falle zu empfehlen, wenngleich die Zeichensetzungsfehler hier und da den Rezensenten gestört haben. Vor allem werden diejenigen Leser:innen ein Lektürevergnügen haben, die Freude an durchweg knappen, wortwitzigen, aber auch paradoxen Denkanstößen haben. Doch wie warnt Richter zu Recht selbst (S. 51): „ Aphorismen setzen die Ernsthaftigkeit aufs Spiel.“

 

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