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Friedemann Spicker über:
Martin Liechti: Leicht daneben. Aphorismen und Notate. Hohenems, Wien, Vaduz: Bucher 2020.
Den Zürcher Martin Liechti als „Altmeister“ der Gattung zu bezeichnen, tut ihm sicher nicht Unrecht, und das nicht wegen des Jahrganges (1937), sondern der neun vorangehenden Aphorismenbände wegen, die er zwischen 1982 („Bewegung in Worten“) und 2018 („Keiner weiß warum“) publizierte. In den „Neuen deutschen Aphorismen“ (2. Auflage 2014, S. 78f.) ist er zu Recht vertreten, er hat aber auch nicht weniger als fünf Romane veröffentlicht (https://www.martin-liechti.com). Der gattungsbewusste Autor, der sich en passant auf Autoren wie Hans Ulrich Bänziger und Michael Rumpf bis zu Chargaff und Nietzsche bezieht, wählt die Form der alphabetischen Anordnung (von „Abdrift“ bis „Zur Sache“), die sich an den Wörterbuch-Aphorismus, eine ganze Untergruppe der Gattung, anlehnt, geht aber doch in der Auswahl und dem Aspektereichtum innerhalb der Stichworte eigene Wege. Über den Zeilensprung im Aphorismus, mit altdeutsch: Virgel, neudt. Slash / markiert, mag man streiten; ob funktional sinnvoll, ob Scheinlyrisierung, da überlässt der skeptische Rezensent das Urteil anhand der zahlreichen zitierten Beispiele dem Leser.
Um Liechtis Aphorismus zu charakterisieren, geht man am besten von einem jüngeren Diktum Jürgen Werners aus (https://juergen-werner.com): „Der arrogante Aphorismus. Die Arroganz des Aphorismus besteht darin, dass er sich anmaßt, keinen Text zu brauchen, sondern den Anspruch erhebt, in einem Satz alles zu sagen. Er sucht nicht das Gespräch, sondern die Überrumpelung.“ Der Autor ist nämlich ein ideales Gegenbeispiel zu dieser These: kein falsches Blenden mit Witz und Pointe, keine gesuchten Neologismen, kein Wortspielgeklingel, Reflexion statt Überrumpelung. Er ist im Ganzen von einem Konservatismus der bedenkenswerten Art geprägt und schreibt nicht vornehmlich aus kritisch-satirischem Impuls heraus: „Gegen die Vernünftigung der / Welt spricht der Hoffnungsglanz spiritueller Umformung oder / gar Erlösung.“ (36) Vor dem Gegenteil, dem Aphorismus der Güte und Lebenshilfe, bewahrt ihn in den meisten Fällen schlicht seine Sprache, insbesondere die Metaphorik, wie sich schon im „Hoffnungsglanz“ dieses ersten Beispieles zeigt.
Mit dem Bild der „Fortschrittspeitsche“ (54) etwa deckt er die Tiefendimension derer auf, die sich „Auf der Höhe der Zeit“ (23) wähnen. Große Themen geht der Autor an: Freiheit, Liebe, Identität;
Endzeit-Resignation zieht sich durch, wie überhaupt zu bemerken ist, dass er Stimmungen, positive wie negative, zu evozieren imstande ist. „Zwischen Poesie und Dialektik“ sähe man ihn vielleicht, allzu effektreich zugespitzt zwar, im Feuilleton verortet. „Verblüffenden Dimensionsreichtum“ (Peter K. Wehrli, Literaturmagazin orte) hat man ihm insofern nicht zu Unrecht attestiert. Und diese Vielfalt macht auch eine differenzierte Auseinandersetzung im Einzelnen notwendig. Man fühlt sich im Fortgang der Lektüre zu einem ständigen Einerseits – Andererseits provoziert.
Beginnen wir – einerseits – mit dem (unseligen? innovativen?) „Oder“: Liechti bietet oftmals mehrere Versionen desselben Gedankens an und erspart sich so das, was wie mir scheint, unbedingt zur konzeptionellen Arbeit dazugehört: das Bekenntnis zu der einen und einzigen optimalen Fassung. Die aber kann dem Autor niemand abnehmen. Da heißt es zum Beispiel: „Passend. An seinem Ich herumlaborieren, / es modellieren, bis es passt… / Oder: / An sich herumlaborieren, / das Ich modellieren, / bis es passt…Schon bist / du angepasst. / Oder: /An seinem Ich herumlaborieren, bis es passt…So passt man sich / an.“ (18) Ist es nicht fragwürdige Unentschiedenheit? (Allerdings ist auch die Gegenmeinung – das sei nicht verschwiegen – nicht abwegig: ein expliziter Appell zur Weiterarbeit des Lesers: „Passend. Das Ich modellieren. / Aktiv wie passiv: / Passend gemacht.“)
Auf der anderen Seite findet sich mit starkem Gewicht seine Metaphorik, die auch da – trotz allem – oft das überzeugende Element darstellt, wo er sich auf allzu bekannten Pfaden bewegt. Satzstrukturen wie die Relativkonstruktionen „wer – der“ oder „das – was“ treffen bei dem aphorismusaffinen Leser unmittelbar auf ein Vorurteil. Das löst sich aber sofort auf, wenn er sich hier diesem immanenten Denkappell gegenübersieht: „Wer das Schnelle ausbremst, schärft die Augen.“ (19) oder dort überraschenderweise mit der „Würde grosser Sorgen“ konfrontiert wird („Wer an kleinen Fragen haftet, / erreicht nicht die Würde / grosser Sorgen.“, 107) oder wenn er die gegenläufige Bewegung von Abwenden und Erhöhen zu bedenken gewzwungen ist: „Was sich abwenden lässt, / das erhöhen wir.“ (112) Die Antithese ist dem Aphorismus alles andere als fremd, aber etwa „höhere Heiterkeit“ – „der Jux moderner Eventkultur“ (34) frischt sie definitiv – mit Goethe gesprochen – auf. In diesem Sinne ist „Gegenläufiges“ (62) besonders hervorzuheben, das über das landläufig-verblüffende Paradox insofern bedeutend hinausweist, als seine Abstrakte („Fülle“, „Gelingen“) nach der konkretisieren Verifizierung (oder Falsifizierung) des Rezipienten verlangen: „Falsche Fülle um uns / leert uns.“ (63); „Vielleicht stellt dich das Gelingen / zu wenig auf die Probe!“ (64) Stimulierende Umkehrung „Beschränkst du deine Freiheit / durch zu viele Wünsche?“ (149) Wo da letzte Konzision hinzukommt, findet Liechti zu seinen besten Texten: „Schleierhaft, wie Klarheit / alles klären soll.“ (116); „Mit Einzelheiten beschwört man das Ganze.“ (21) Ein prinzipiell nicht unüberraschendes Grund-Paradox: „ […] Manches trifft man, weil es danebenging.“ (5) kann gar als der geheime Rahmen des Bandes gelten: „Das Wort ist immer / leicht daneben oder / über dem Ding.“ (151)
Einerseits: Liechti fasst seine Texte teils in die Wir-, teils in die Du-Perspektive. Gerade das Du zusammen mit dem tückischen Imperativ ist gefährlich, wie die Geschichte der Gattung mit dem Zweig der Lebenshilfe-Aphorismus allzu oft bewiesen hat, und auch er entgeht dieser Gefahr nicht: „Warum bist du so / streng mit dir? / Lerne dich dulden.“ (143); „Du brauchst das Meiste nicht. / Bloss: Bis du das merkst, ist / es zu spät.“ (25) Schon Gieri Cavelty („Neue Zürcher Zeitung, 11. 7. 2003) haben Liechtis Anklänge von positivem Denken weniger überzeugt; solche Ratschläge klangen schon ihm zu Recht zu banal. Die Schwelle vom Trivialen ins aspektereiche Offene ist für mich auch hier nicht überschritten: „Die Zukunft ist die Zukunft. / Wir kennen sie nicht.“ (79); „Die vielgerühmte Freiheit – sie hochzuhalten / fällt schwer.“ (56) Schon dem guten, alten Marx war es klar, und die Formulierung verleiht dem alten Gedanken auch keinen neuen Glanz: „Der wirtschaftliche Fortschritt lebt / von der Bedürfnisproduktion.“ (53)
Wenn man den Ausdruck „unter Hintansetzung unseres Wesens“ (19) unter mehreren Aspekten kritisieren wird und sich fragt, was denn „das Gefüge der Dinge“ (39) sei, so steht dem andererseits eine Fülle sprachlicher Details gegenüber, die den Autor als einen sorgsam, präzise und originell formulierenden Aphoristiker erweisen, ob da der Mensch „im todfreien Raum“ (27) denkt oder sich bald „auch die Gefühle bewirtschaften“ (38) lassen, ob der Kontext das „Licht“ im „Gelichter“ (110) wieder zum Leuchten bringt oder das kunstlos Lapidare gerade in seiner überzeugenden Einfachheit gefällt: „Vieles ist ein Gesellenstück / des Zufalls.“ (86); „Das Zeitlose ist uns nicht gegeben.“ (151)
Um das dialektische Abwägen ein letztes Mal in aller Subjektivität am Beispiel der Liebe und auf zwei aufeinanderfolgenden Seiten zu demonstrieren: Die Liebe und das Liebe ist bekanntlich auch im Aphorismus bis zu Unkenntlichkeit verharmlost. Mit dem knappen Verb „wüten“, das zu ungewohnten Einsichten zwingt, schiebt der Autor dem einen Riegel vor und öffnet den Blick auf die schmerzhaften Ambivalenzen im Fall von „Liebe“. „Wo Menschen sind, wütet auch die Liebe.“ (81) Andererseits: „Wer möchte nicht im Du / verströmen?“ (82) Der Rezensent „möchte“ mit Melvilles Bartleby „lieber nicht“.
Welcher Aphoristiker aber „möchte“ nicht ein so geschmackvolles Gewand für seine Texte: Schutzumschlag, der farblich mit dem Klee-Bild korrespondiert, Hardcover? Schön, wenn man dann das Fazit ziehen kann: Liechtis Aphorismen haben dieses Gewand verdient.
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