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Jürgen Wilbert über:
Martin Kunz: Kurzschlüsse – Meinungen und Notwendigkeiten. Düsseldorf, Edition Virgines 2024

 

Vor Kurzem ist im Düsseldorfer Verlag „edition virgines“ ein neues Buch des Schweizer Autors Martin Kunz erschienen. Es trägt den Titel „Kurzschlüsse – Meinungen und Notwendigkeiten“ und beinhaltet in 13 Kapiteln „Gedanken und Variablen aus (…) alltäglichen Beobachtungen – mit pointierter Schlussfolgerung“ (so im Klappentext von Urs Heinz Aerni). Darin heißt es weiter: „dieses Buch birgt gedankliche Funkensprünge, die bei Lesenden unterschiedlichen Reaktionen oder Reflexe auslösen“; mit anderen Worten: es handelt sich, obwohl das Wort im Titel vermieden wird, um Aphorismen bzw. aphoristische Notate. Aerni spricht schließlich resümierend von „Gedankenschlüssen“ und „tiefen Wahrheiten“, die im Buch zu finden seien. Martin Kunz ist Philosoph und Schriftsteller und leitet seit 2014 das Atelier für Kunst und Philosophie in Zürich. Bis 2016 war er Professor für Anthropologie und Ethik an der dortigen Pädagogischen Hochschule. Die interdisziplinäre Schweizer Künstlerin Jeanine Osborne begleitet das Buch mit ihren gleichermaßen minimalistischen wie ausdrucksstarken Zeichnungen.

Schon ein erster Blick in eines der Kapitel belegt, wie durchgehend aphoristisch die „Kurzschlüsse“ von Kunz sind; zum Beispiel in dieser Definition von „Mode: Du bist ganz du selbst, wenn du dich kleidest wie alle.“ (S.9) Oder in kontradiktorischer Manier: „Fremdgehen, um sich nahe zu sein.“ (11) Seine selbstreflexiven Aufzeichnungen sind sprachlich wie gedanklich pointiert, wie diese Textbeispiele zeigen: „Selbstoptimierung: Seit es kein Leben nach dem Tod mehr gibt, müssen wir alles im Diesseits erreichen.“ (12) / „Eines Tages nicht mehr auf mich selber hereinfallen.“ (14)

An vielen seiner Ein-Satz-Notate merkt man, dass Kunz eine Ausbildung zum Fachpsychologen für Psychotherapie und zum analytischen Kunsttherapeuten absolviert hat, so unter anderem im Kapitel „Wenn wir zu zweit sind, sind wir zu viert“: „Achtung – sein tabuverletzendes Verlangen könnte auch unser eigenes sein.“ (54) / „Er hat sich dagegen gesträubt, melancholisch zu werden und wurde depressiv.“ (55) Unter der Rubrik „Wann ist Kunst statt Was ist Kunst“ stoßen wir auf solche tieferen Einsichten: „ Bunte Vögel singen nicht unbedingt schöner.“ (64) Und: „Wer hinter dem Mond lebt, weiß mehr.“ (65) Das Buch ist wohltuend strukturiert und lässt genügend Raum für die Lesenden zur Nachbesinnung: So sind auf jeder Seite zumeist nur sechs Kurztexte abgedruckt. Im Kapitel „Steigerungsformen von wahr“ setzt sich Kunz mit einem traditionellen Kernthema der Aphoristik auseinander, der Wahrheit, und stellt die denkwürdige Frage: „Die Wahrheit opfern zugunsten der Menschlichkeit?“ (37) Mit Blick auf das soziale Gefälle beim Niveau der Sprache formuliert er diese knappe wie selbstkritische Pointe mit einer Wortneuschöpfung: „Wir Intellektuellen mit unserer Palastsprache.“ (38)

Am Ende des Buches konfrontiert uns Kunz in seinem Schlusskapitel „Das nicht enden wollende Gelächter der Götter“ mit seinen Ansichten über Religion: „Das Licht der Religionen führt die Menschen hinters Licht.“ (79) / „Ein gerechter Gott wäre berechenbar.“ (80)

Es gibt im Buch allerdings auch viele Sentenzen, die den Markennamen Aphorismus in der Tat nicht verdienen; sie sind mehr oder minder lyrische Alltagsaufzeichnungen oder ganz persönliche „Infragestellungen“ (laut hinterem Klappentext), so vorzugsweise im Kapitel „Wenn die Ewigkeit könnte, würde sie Zeit“: „Das Fotoalbum meiner Eltern: Einzelne Fotos rabiat herausgerissen.“ (73) Oder an anderer Stelle (38): „Auf meiner Terrasse. Zu welchen Einsichten führt mich die schöne Aussicht?“ Wir finden auch diesen subjektiven Kommentar zum akademischen Literaturbetrieb: „Der Literaturprofessor ist schuld, dass Kafka einen Satz geschrieben hat, der die Studentin unangenehm berührt.“ (59)

Resümierend möchte ich festhalten, dass dieses eher schmale Bändchen (81 Seiten) den Aphorismus-affinen Lesern / Leserinnen eine Menge an kurzen, zündenden Gedankenschlüssen zu bieten hat, u.a. auch solche mit gesellschaftskritischem Bezug: „Sie wollen alle möglichen Freiheiten, am wenigsten die des Denkens.“ (24) Schlussendlich noch zwei plakative Aphorismen – prägnant und erhellend zugleich: „Totalitär beginnt mit tot.“ Und: „Kosmopoliten statt Globalisierte!“ Sätze, die zurecht auf dem hinteren Umschlag abgedruckt sind und geeignet sind, bei sprachbewussten Lesern / Leserinnen Aufmerksamkeit zu erregen.

JWD, 27.9.2024

 

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