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Michael Wollmann über:
Hiltrud Schinzel: Aphorismen 2023. Aphorismen, BoD – Books on Demand 2023.

 

Unter dem sehr pragmatisch gehaltenen Arbeitstitel „Aphorismen 2023“ legt uns die promovierte Kunsthistorikerin und Restauratorin Hiltrud Schinzel (*1946) ihren zweiten „Geh-Versuch in die Aphoristik“ vor. Der Band ist mit 52 Seiten (inklusive Stichwortregister und Zeichnungsdatierungen) erneut eher schmal ausgefallen, aber wurde wieder reich durch liebevolle Tuschzeichnungen illustriert. Im Unterschied zu ihrem ersten Band „Aphorismen – Aphrodismen“ (BoD 2022) hat die Autorin dabei „Denkanstöße der Feedbacks einiger Leser“ (S. 5) zu integrieren versucht („dixit Silke“, S. 30). Namentlich dankt Schinzel insbesondere Jürgen Wilbert für seine hilfreichen Anregungen zu ihrer ersten aphoristischen Veröffentlichung.

Auch diesmal führt uns Schinzel anhand von alphabetisch geordneten Stichworten von A-Z („Accessoires“ bis „Zukunft“) durch die unterschiedlichsten Themen des Lebens. Auffällig sind diesmal neben dem zu erwartenden Sujet Kunst und Künstler eine Handvoll Aphorismen zur Corona-Pandemie. Einmal mehr verzichtet die Autorin bewusst auf den Punkt am Ende eines Satzes, da sie nach wie vor „den Gedankengang (auch für die Lesenden) offen halten möchte“ (vgl. Rezension Wilbert 2022): „Die Endgültigkeit des Punkts am Ende eines Satzes beschränkt die Freiheit der gedanklichen Fortsetzung“ (S. 13).

Im Unterschied zu ihrer ersten Veröffentlichung hat Schinzel sich diesmal offensichtlich mehr an das aphoristische „Gebot der Kürze“ gehalten und nur selten Texte übernommen, die über eine Zeile hinausgehen. Auf zumindest eine humoristische Reimerei in Wilhelm-Busch-Manier hat die Autorin – trotz vorangegangener Kritik – hingegen nicht verzichten wollen, obwohl der Reim absolut untypisch für die Gattung des Aphorismus ist: „Ob Dino oder Vir, alle sterben an der Gier“ (S. 11).

Schinzels aphoristischer Stil ist nach wie vor hauptsächlich durch (oftmals humorvolle) Paradoxien, Antithesen und Überzeichnungen gekennzeichnet, die im besten Fall zum Nachdenken anregen („Das schnelle Geld bringt langes Elend“ [S. 16]: „Man kann in der Vergangenheit nur erkennen, was man in der Gegenwart fühlen kann“ [S. 36]).
Im schlimmsten Fall sind Schinzels antithetische Paradoxien nicht besonders erkenntnisreich, von einer selbsterklärenden Banalität, oder wirken absolut unpassend in ihrem festgelegten Schematismus: „Hass ist Verliebtheit andersrum“ (S. 18); „Die Philosophie begnügt sich mit Worten, auch wenn Taten gefragt sind“ (S. 27); „Diktatur kann tödlich sein, Demokratie eher nervtötend“ (S. 11).
Nicht selten bleiben merkwürdige Behauptungen der Autorin einfach fraglos dahingestellt: „Nur dem Künstler ist es erlaubt, am Baum der Erkenntnis zu sägen“ (S. 21).
Frage: Warum darf denn eigentlich der Künstler am Baum der Erkenntnis sägen, bzw. welche Konsequenzen hat ein Nicht-Künstler zu fürchten, wenn er dies tut?

Wo Schinzel sich unverblümt humorvollen Pointen hingibt, wird sie teilweise gänzlich unaphoristisch: „Ratschlag: ‚Damit kann meine Amygdala nichts anfangen‘ klingt höflicher als ‚Was soll der Blödsinn‘“ (S. 29). Hier begibt sich die Autorin bewusst oder unbewusst auf das Schmunzel-Niveau von Facebook-Sprüchen.

Viele ihrer Sätze klingen darüber hinaus eher nach gutgemeinten Ratschlägen („Kunst ist Münchhausen’s Zopf für jedermann“ [S. 21]; „Pessimismus ist eine Sackgasse“ [S. 27]; „Utopien sind nötig, um destruktive Realitäten zu bewältigen“ [S. 35]), oder vermeintlichen Lebensweisheiten („Der Misanthrop ist erst dann glücklich, wenn er alle Freu(n)de aus seinem Leben rausgeekelt hat“ [S. 25]; „Spott soll immer von eigenen Defekten ablenken“ [S. 31]). Solcherlei (Erfahrungs-)Sätze sind sicherlich noch nicht ausgefeilt und hintersinnig genug, um als Aphorismen durchgehen zu können, da sie als bloße Behauptungen stehenbleiben, ohne zu weiterem Nachdenken anzuregen.

Auch längst Bekanntes begegnet uns in Schinzels Aphorismenband:
„Denen wir Unrecht tun, verzeihen wir das nie“ (S. 35). Eine ähnliche Überlegung findet sich bereits bei Tacitus und wurde auch von späteren Aphoristikern immer wieder ‚neu aufgelegt‘: „Es ist die Eigentümlichkeit des menschlichen Charakters, zu hassen, wen man verletzt hat.“ (Agricola 42,4).
„Man kann machen, was man will, solange man noch wollen darf, was man kann“ (S. 40) erinnert stark an Kants kategorischen Imperativ.
Oder auch: „Der Tod ist der einzig wahre Kommunist“ (S. 33) – Vermutlich referiert Schinzel hier bewusst oder unbewusst auf Giuseppe Gracias unlängst erschienenes Buch „Der Tod ist ein Kommunist“ (2021), oder schöpft möglicherweise aus einer noch älteren Quelle.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass Schinzel fraglos einen weiteren „Geh-Versuch in die Aphoristik“ unternommen hat. Eine gewisse aphoristische Schärfe und ein eigener Stil sind in Ansätzen bereits erkennbar, aber noch fehlt der Autorin der kritische Blick auf das eigene Schaffen, bzw. ein sorgfältiges Lektorat, das typographische Schnitzer wie den folgenden vermeiden würde: „Was Geld bedeutet, erfährt man nur, wenn kann keins hat“ (S. 16).

Auf der Buchrückseite ist als abschließender Aphorismus zu finden: „Der Charme des Fehlers darf nicht unterbewertet werden“. Bei allen Unzulänglichkeiten dieses Bandes scheint mir dies ein charmantes Schlusswort zu sein.

 

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