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Heimito Nollé zu:
Heinrich Wiesner, insbesondere sein Buch „Lakonische Zeilen“. Mit Zeichnungen von Celestion Piatti
Lenos Verlag 2015, Basel
Zum Tod von Heinrich Wiesner reichte es in der Neuen Zürcher Zeitung immerhin zu einer Agenturmeldung. Der Schweizer Schriftsteller, der am 27. Februar diesen Jahres im Alter von 93 Jahren verstorben ist, begann in den 50er Jahren als Lyriker, bevor er sich der literarischen Kurzform zuwandte. Seine Bändchen «Lakonische Zeilen» (1965), «Lapidare Geschichten» (1967) und «Neue lakonische Zeilen» (1972) kursierten als «Kürzestgeschichten»; de facto handelte es sich um nichts anderes als Aphorismen (gab es damals schon eine Gattungsscham?).
Zwei dieser Publikationen, nämlich die beiden «Lakonischen Zeilen», hat der Lenos-Verlag zum neunzigsten Geburtstag des Autors vor vier Jahren als Taschenbuch neu herausgegeben. Das Bändchen ist von dem bekannten Grafiker Celestino Piatti illustriert und enthält vierzehn Kapitel mit insgesamt rund 600 Aphorismen. Wie liest es sich heute?
Wiesner gehörte zu den Schweizer Intellektuellen, die sich in den 60er und 70er Jahren vermehrt politischen Themen zuwandten und dabei aus einer dezidiert linken Position heraus schrieben. In den «Lakonischen Zeilen» nehmen Gedanken zu Krieg, Militarismus und Patriotismus einen verhältnismässig grossen Raum ein, ebenso wie die Kritik an den Institutionen Staat, Kirche und Kapital. Konkrete tagespolitische Bezüge sind häufig, etwa in Aphorismen über Vietnam, die atomare Aufrüstung oder die Jugendunruhen der 68er. Daneben findet Wiesner aber auch Platz für die traditionelleren Themen der Aphoristik: Ein Kapitel ist den menschlichen Beziehungen gewidmet, ein anderes stellt so etwas wie eine Typologie der Charaktere auf; zahlreich sind schliesslich die Aphorismen über die Conditio Humana im weitesten Sinn, über Leben und Sterben, Krankheit, Liebe, Religion und das Schreiben.
Formal löst Wiesner das Versprechen des Titels ein: Seine Aphorismen sind selten länger als ein bis zwei Sätze, manchmal auch auf wenige Wörter verdichtet. «Gott. Ist einsilbig» heisst es da zum Beispiel, eine Aussage, die gleichermassen auf Wiesner zutrifft. Solche Wortdefinitionen, in denen ein Begriff vorangestellt wird und dann die satirische Beschreibung folgt, sind häufig in dem Buch. In seiner Neigung zur Kürze, zur Zuspitzung und zur Wortspielerei ist Wiesner wie so viele neuere Aphoristiker ein Schüler von Stanislaw Jerzy Lec.
Aphoristiker wissen, wie es schwer es ist, ein Bändchen mit klugen Sätzen zu füllen. Da ist die Versuchung, einen Einfall für einen Gedanken auszugeben, nicht fern. Das allzu naheliegende Wortspiel ist auch bei Wiesner anzutreffen, und das leider nicht zu selten. Sätze wie «Was zutage tritt, tritt nicht zutage», «Als sie sich nicht mehr trauten, trauten sie sich» oder «Was ihm zufiel, war ihm bald zuviel» möchte man eigentlich nicht lesen; genauso wenig wie bemüht wirkende Konstruktionen von der Art: «Um die Ungleichheit aller gleich zu behandeln, ist die Ungleichheit aller ungleich zu behandeln».
Vor Kalauern ist Wiesner ebenfalls nicht gefeit; einiges ist schlicht veraltet und wirkt heute nur noch befremdlich. «Zwei schwitzende Neger nehmen einander den Geruch nicht übel» kann kommentarlos übergangen werden; ebenso wie dieser Altherren-Witz: «Er teilte mit ihr Bett und Tisch. Den Nachtisch nahm er woanders».
Ärgerlich sind schliesslich jene Aphorismen, in denen das Vorbild Lec zu deutlich spürbar wird. Manches bei Wiesner wirkt arg epigonal, sei es thematisch oder bis in die Formulierung hinein. Der Satz «Sein Gewissen war ruhig. Da es schlief» kennen wir in der Version von Stanislaw Lec «Sein Gewissen war rein. Er benutzt es nie». Nicht viel mehr als eine Lec-Variation ist auch der Aphorismus «Ich schreibe nur noch längere Sachen, sagte der Schriftsteller X., für kürzere fehlt mir der lange Atem.»
Doch genug der Nörgelei, schliesslich findet sich in dem Bändchen auch viel Gelungenes. Witz und satirischen Biss beweist Wiesner in seinen Aphorismen über den Krieg. Der folgende Satz über den Vietnamkrieg bezieht seine Stärke aus dem Kontrast zwischen einem ernsten Thema und seiner wortspielerischen Behandlung: «Da Nang. Na Palm. Vietnamesische Orte.» Die Absurditäten der Geopolitik zeigt ein weiter Vietnam-Aphorismus auf: «Vietnam. Nord und Süd geteilt in Ost und West.» Bei beiden Beispielen verblüfft die Leichtigkeit, mit der Wiesner Worte für ein komplexes Geschehen findet. Sarkasmus ist ihm dabei ein probates Mittel, um die Wahrheit ans Licht zu heben: «Krieg. Der Soldat erweist sich als blutiger Laie.», oder: «Der Krieg erschliesst brachliegendes Heldentum.»
Zur Zielscheibe werden Wiesner Kriegstreiber jeder Couleur, ob sie nun Staat, Kirche oder Kapital heissen. Der patriotische Festredner («Festredner sind Männer mit Kopf. Mit Kehlkopf.») kriegt sein Fett dabei ebenso weg wie der politische Mitläufer («Der Opportunist besitzt eine reiche Garderobe.») oder die unheilige Allianz von Politik und Religion («Sonntagmorgen. Glocken und Schüsse bezeugen die friedliche Ehe zwischen Kirche und Staat.»).
Lesenswert sind schliesslich jene Aphorismen, die Wiesners Herkunft aus der Lyrik bezeugen. Wiesner hat ein feines Händchen für überraschende Bilder und poetische Momentaufnahmen. «Hagel. Der Regen bekam Gänsehaut» ist ein Beispiel für diese Texte im Grenzbereich von Aphorismus und Lyrik. Sie bewegen sich zwischen Naturbetrachtung («Schilf unter Schnee. Das Schlanke ist das Zähe.») und Selbstbeobachtung («Im Spiegel. Dein Komplize, seitenverkehrt.»). Schön in seiner Schlichtheit ist dieser Satz: «Winter. Mein Atem beschlägt das Fenster. Ich lebe.»
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