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Alexander Eilers über:
Hans Magnus Enzensberger: Album. Berlin: Suhrkamp 2011
Hans Magnus Enzensberger: Fallobst. Nur ein Notizbuch. Berlin: Suhrkamp 2019.
„Poetik der Aneignung“ – H.M. Enzensbergers Aphorismen in Album und Fallobst
Der Ruhm hat sich zu den Klassikern ins Grab gelegt. Doch damit sind weder die Erwartungen der Leserschaft noch die Ansprüche der Autoren an sich selbst gesunken. Wer nämlich in dem fast unüberschaubaren Literaturbetrieb der Gegenwart zu den Großschriftstellern gehören will, muss gleich mehrere Genres bedienen.
Ein solcher ‚Hans Dampf in allen Gassen‘ ist zweifellos H. M. Enzensberger. Nicht nur, dass er sich schon früh mit seinen Radio-Essays, Gedichten und Bühnenwerken einen Namen gemacht hat. Vielmehr ist der Büchner-Preisträger von 1963, den sein Hausverlag Suhrkamp im 90. Lebensjahr zu „einem der einflussreichsten und weltweit bekannten deutschen Intellektuellen“ erklärt, ebenfalls als Biograph, Verfasser von Kinderbüchern, Hörspielen oder Filmskripten sowie als Übersetzer in Erscheinung getreten. Hinzu kommt, dass er viele Jahre das legendäre Kursbuch edierte, die Kulturzeitschrift TransAtlantik mitherausgab und zusammen mit Franz Greno die bibliophile Buchreihe Die Andere Bibliothek begründete. Gerade letztere, die ein buntes Spektrum an wiederentdeckten Klassikern, zu Unrecht in Vergessenheit geratenen literarischen Kostbarkeiten und Erstausgaben von im deutschen Sprachraum unbekannten Schriftstellern präsentiert, zeugt von seiner Vielseitigkeit.
Kein Wunder also, dass sich der Herausgeber von Chamforts Ein Wald voller Diebe (1987), Montaignes Essais (1998) oder Gómez Dávilas Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten (2006) seit einiger Zeit auch zunehmend der kürzeren Form annimmt. So versammelt etwa das 2011 bei Suhrkamp erschienene Album, das sich selbst als „scrap-book“ (S. 5) ausgibt, auf knapp 300 unpaginierten Seiten unzählige Aufsätze, Gedichte, Notate, Anekdoten, aber auch Sprichwörter, Zitate sowie Aphorismen. Diese stammen entweder als Trouvaillen von klassischen Gattungsvertretern (Lichtenberg, Novalis, Jean Paul, Goethe, Hebbel, Montesquieu, Rivarol, Bacon, Shaftesbury, Chesterton etc.) oder aus eigener Feder, wobei die Fremdproduktion zahlenmäßig eindeutig überwiegt. Wer nun aber glaubt, Enzensberger hätte das von Franz Greno meisterhaft gestaltete – oder besser ‚inszenierte‘ – Buch mit Gedankensplittern lediglich auffüllen wollen, irrt, da ihm ein klares Konzept zugrunde liegt. Es besteht in der produktiven Aufnahme fremden Gedankenguts, wie gleich zu Beginn deutlich wird, wo sich der Autor unter Berufung auf Wolfram von Eschenbach mit einer diebischen Elster vergleicht, die „mit allem, was sie findet, und sei es noch so unscheinbar, ihr Nest schmückt“ (ebd.). Gerne hole sie glitzernde Dinge hervor – gleichgültig, ob es sich um „Straß oder Diamant“ (ebd.) handle. Entsprechend sind in das „Sammelsurium“ (ebd.) Einfälle unterschiedlichster Natur (bzw. Güte) aufgenommen worden, wobei unter strenger Beachtung der alten Rechtschreibung Grüblerisches – „Die Mode ist die Schwester des Todes“ (Giacomo Leopardi) – neben Satirisch-Paradoxem – „Auch wenn Gott die Vergangenheit nicht ändern kann, die Historiker sind dazu imstande“ (Samuel Butler) – oder Moralistisch-Anthropologischem steht: „Geiz ist eines der verläßlichsten Anzeichen tiefen Unglücklichseins“ (Franz Kafka). Enzensbergers eigene Beiträge wirken dagegen oft epigonal, gelegentlich sogar so, als hätte man sie irgendwo schon einmal gelesen: „Daß Marx kein Marxist war, steht fest; er hat sich derart üble Nachrede verbeten. Ebensowenig waren Charles Darwin Darwinist und Freud Freudianer. Nur Dummköpfe sind Anhänger ihrer selbst“ (S. 31). Dies sei aber kein Mangel, wie der Autor betont, sondern ein Vorzug. Denn wenn er schreibt, dass sich, „[w]er beeindrucken will, […] mit fremden Federn schmücken [sollte, da einem] die eigenen […] allzu bekannt [vorkommen]“ (S. 88), formuliert er seine an T.S. Eliot geschulte Poetik: „Immature poets immitate, mature poets steal.“ Dichtung sei nämlich so sehr in den gesamtkulturellen Kontext eingebunden, dass Individualität letzten Endes auf Konformität hinauslaufe. Demzufolge komme es – um Eschenbachs Eingangsbild erneut aufzurufen – nicht darauf an, dem ‚finsteren, treulosen Schwarz der Elsternfarben nachzudenken‘, sondern ihrem ‚Weiß‘ (vgl. S. 5). Das ist insofern relevant, als diese Farbe auch für den gleißenden Einband gewählt wurde. Zudem schließt das Buch mit einer „Meditation über alles, was weiß ist“, in der Enzensberger unter Bezugnahme auf das von Malern benutzte Bleicarbonat – allegorisch verschlüsselt – vor einem Übermaß an Originalität warnt:
„So geht das schönste Weiß aus einem Metall hervor, das der Wirkung von Mist ausgesetzt wird, und das Resultat ist eine ebenso kostbare wie gefährliche Substanz. Bleiweiß gehört zu den giftigsten Farben, die wir kennen. Vorsicht ist geboten: Wer sich auf das weißeste Weiß einläßt, kann darin umkommen“ (S. 335).
Doch ergeben sich noch weitere Korrespondenzen zwischen Dichtungstheorie und Einband. Schließlich ist auf dessen Innenseite eine mit „Vorratskammer HME“ betitelte und schwarz unterlegte Computertomographie von Enzensbergers Gehirn abgedruckt. Sie liefert dahingehend Aufschluss über den Plan des in wildem Durcheinander gehaltenen Albums, dass unser Nervenzentrum „ein undiszipliniertes Organ ist, das sich an keine Reihenfolge hält, ohne Inhaltsverzeichnis auskommt und keine Chronologie kennt“ (S. 6). Folglich genüge es, wenn andere gescheit sind, so dass man kein Lichtenberg zu sein brauche, um sich an Sudelbüchern zu weiden (vgl. ebd.). Was hier vorliegt, versteht sich also nicht als ein eigenständiger Essay- oder Aphorismenband, sondern als eine randvoll gefüllte „Wundertüte“ (ebd.).
Dasselbe gilt für die kürzlich erschienene Sammlung Fallobst (Suhrkamp, 2019). In drei ‚Körbe‘ aufgeteilt, präsentiert sie – wie es im einleitenden Gedicht heißt – ‚Liegengelassenes‘, das „vielleicht […] als Dünger [taugt]“ (S. 6) und das man gerne aufsammelt, „solange es nicht verfault ist“ (ebd.). Hierbei handelt es sich um Texte verschiedenster Art. Sie reichen von Beobachtungen, Kurzessays, Erinnerungen über Dialoge und Verse bis zu Gedankensplittern. Allen gemein ist, dass sie dem Zeitgeist auf den Zahn fühlen und kritisch auf das Selbstbewusstsein der Finanzastrologen, das Kauderwelsch der Tageszeitungen oder die Mythenmodelle der modernen Kosmologie zu sprechen kommen. Was aber auf den ersten Blick wie eine Zusammenstellung älterer, bislang unveröffentlichter Beiträge aussieht, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine Fortsetzung des Albums. So ist Fallobst zwar nicht so reich bebildert wie das Vorläuferbuch, doch stellen die Vignetten von Bernd Bexte eine eindeutige Beziehung zwischen den beiden her. Schon auf dem Einband ist die stilisierte Darstellung eines Kopfes zu sehen, in dem sich ein Labyrinth von Nervensträngen befindet. Darüber hinaus sind die geistreich-verspielten Zeichnungen bestens zur Illustration von Enzensbergers Lieblingsthemen geeignet, zu denen Fragen der Ökonomie, des technischen Fortschritts, der Literatur und der Intelligenzforschung zählen. Parallel dazu kommt es zu inhaltlichen Überschneidungen – etwa, wenn der Autor erneut auf das lyrische Oeuvre von Diktatoren eingeht oder wenn er seinen im Feuilleton kontrovers diskutierten Vergleich zwischen Saddam Hussein und Adolf Hitler weiterspinnt. An manchen Stellen stößt man sogar auf altbekannte Texte, wie z. B. den Aufsatz „Über die unaufhaltsame Verbesserung der Welt“, der sowohl im Album als auch in Fallobst vertreten ist.
Doch damit nicht genug: Selbst in Punkto Aphorismus sind sich die beiden Bände ähnlich. Nicht nur, dass beim Abdruck von Lesefrüchten weitgehend aus denselben Quellen (Lichtenberg, Goethe, Kafka, Leopardi, Chesterton etc.) geschöpft wurde. Vielmehr befinden sich Enzensbergers eigene Sentenzen auch hier deutlich in der Unterzahl und wirken genauso nachahmend wie im vorigen ‚Sudelbuch‘. Als Beispiele seien das Marx-Echo „Fußball ist kein Opium, sondern Ecstasy, Amphetamin und Crack fürs Volk“ (S. 208) sowie der auf Samuel Becketts berühmtem Motto „Try again. Fail again. Fail better“ beruhende Satz „Unbefangen weiter straucheln, bis zum letzten Atemzug“ (S. 72) genannt. Dass sie qualitativ nicht mit den zahlreichen Zitaten aus Philosophie, Literatur und Wissenschaft mithalten können, wird spätestens dann klar, wenn sie einem direkten Vergleich unterzogen werden. Infolgedessen finden sich unter den eingegliederten – man möchte schon fast sagen ‚anthologisierten‘ – Einfällen und Aussprüchen wahre Schätze wie „Das Leben steckt in Begriffen wie ein ausgewachsenes Kind in zu kurzen Kleidern“ (Joseph Roth) oder „Es gibt nichts Schöneres, als einem dummen Menschen beim Schweigen zuzuhören“ (Helmut Qualtinger), während Enzensbergers eigene Aphorismen häufig banal – „Die wirksamsten Aphrodisiaka sind immer noch Liebe, Macht und Geld – in absteigender Reihenfolge“ – oder bemüht anmuten: „Man tut gut daran, alles abzusagen, was angesagt ist“ (S. 119). Nur selten erreichen seine Denksprüche die Qualität eines „Privilegiert sein heißt, niemanden über und niemanden unter sich zu haben“ (S. 132), weshalb man als Liebhaber der Gattung nicht beklagen sollte, dass Fallobst den Untertitel „Nur ein Notizbuch“ trägt. Denn die Tendenz von Großautoren, ihre Sammlungen nicht den Zusatz „Aphorismen“ zu geben, was man etwa bei Peter Handke, Martin Walser, Botho Strauß oder Günther Kunert beobachten kann, ist nicht unbedingt ein Hinweis auf den schlechten Leumund des Genres. Enzensbergers Entscheidung, seine neuste Publikation ‚Notizbuch‘ zu nennen, hat wohl eher damit zu tun, dass man die enthaltenen Beiträge tatsächlich nicht einer bestimmten Textsorte zuordnen kann. Wer also vom Album oder von Fallobst „eine ganze Milchstraße voller Einfälle“ (Lichtenberg) erwartet, wird enttäuscht. Ertragreich ist die Lektüre gleichwohl dann, wenn man sich auf Enzensbergers ‚Poetik der Aneignung‘ einlässt. Ob sie ihm das von T. S. Eliot beschworene Einrücken in den Überlieferungskontext gewährt, wird die Zukunft zeigen. Der Heinrich-Heine-, Ludwig Börne- und Frank-Schirrmacher-Preisträger scheint – wie er in seinem Album ausführt – diesbezüglich aber eher skeptisch zu sein: „Der Ruhm ist der Kondensstreifen, den ein Werk hinterläßt. Anfangs nimmt er zu, dann läßt er allmählich nach und verschwindet in der Atmosphäre“ (S. 209).
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