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Jürgen Wilbert zu:
Gerd Meyer-Anaya: „Kurze Sätze – L a n g e Wirkung“
LATROS-Verlag & Services GmbH, Sonnefeld: 2019 (ISBN 978-3-86963-684-9)
Dieses kleine Buch – ungefähr im Reclam-Format mit ähnlich gelber Farbgebung – trägt den etwas länglichen, aber vielsagenden Untertitel: „Das Hand- und Hosentaschenbuch, nicht nur für Psychotherapeut*innen, Klient*innen und Paare in allen Lebens-, Liebes- und Sterbenslagen.“
Der Autor ist seit vierzig Jahren als Psychotherapeut und Weiterbildner tätig. Hier legt er eine Sammlung kurzer aphoristischer Sätze vor, – er nennt sie in seinem Nachwort „Interventionen“ , die, „häufig provokativ oder auch scheinbar komisch wirken“. Als Zielgruppe bezeichnet er den in obigem Untertitel genannten Personenkreis, namentlich wendet er sich an alle „an Veränderung Interessierten“. Er möchte „Denk- und mehr noch Fühlanstöße“ geben, um „Blickrichtungen zu verändern und neue Lösungen (…) aufzuspüren.“ In besonderer Weise fühlt er sich gedanklich dem Stoiker Epiktet verpflichtet; er verweist folglich auf dessen Kernaussage auf dem rückseitigen Cover: „ Es sind nicht die Dinge, die uns krank machen, sondern die Sicht der Dinge und für die sind wir selbst verantwortlich.“
Dieses „Handbüchlein“ umfasst 95 Seiten und ist in diese 5 Kapitel gegliedert: Psychologisches / Zwischenmenschliches / Sexuelles / Familiäres / Sterbliches. Insgesamt erwartet den Leser / die Leserin rund 800 aphoristische Kürzesttexte, wobei die Bandbreite der Gestaltung von selbsterklärenden, rein sprachspielerischen Sätzen bzw, Kommentaren bis zu tiefgründigen, bisweilen paradoxen Denkanstößen reicht. Man vergleiche bloß diese beiden Beispiele aus der ersten Rubrik „Psychologisches“: „Neurosen blühen deutlich länger als jede andere Rosenart.“ Und: „Sich verändern, heißt nicht, ein anderer zu werden.“ An manchen Stellen stößt man auf bereits bekannte Gedankensprünge, z.B. „Die Raupe von heute ist der Schmetterling von morgen.“ Oder das abgewandelte Sprichwort, den altbekannten Sponti-Spruch: „Was lange währt, wird endlich Wut.“ Laut Redensarten-Index (im Internet) soll dieser Satz von Hans-Hermann Kersten stammen.
Bei einer themengleichen Anhäufung von aphoristischen Anmerkungen / Anleitungen hätte ich mir eine qualitativ begründete Auswahl gewünscht, z.B. beim Thema „Angst“ auf den Seiten 18-20. So aber findet man neben erhellenden so manchen eher belanglosen, ja allzu naheliegenden Wortwitz, etwa: „Wer sich vor Angst in die Hose macht, muss mit dem Gestank leben lernen.“ Demgegenüber steht dann das durchaus überzeugende Sprachbild: „Die Mauern des Schweigens werden aus Angst gebaut.“ Der Autor verweist selber auf diese Gefahr aphoristischer Überladung, ja möglicherweise Überforderung oder gar Übersättigung: „Mit wenigen Worten sagt man mehr als mit vielen Sätzen“ (S. 29).
In der Rubrik „Zwischenmenschliches“ finden sich insbesondere zum Themenkreis „Liebe“ bedenkenswerte, mitunter paradoxe Denkanstöße: „Wer lieben will, muss auf das Verliebtsein verzichten.“ Und: „Liebe ist, das Undenkbare zu fühlen.“ Andererseits stößt man immer wieder auch auf banale Aussagen, die allein der Lust am Wortspiel geschuldet sind, wie: „Beziehung verlangt Bezug.“ (S. 32) Und: „Versprechen sind manchmal Versprecher.“ (S. 51).
Die wortwitzige, nicht selten arg kalauernde Note durchdringt vor allem die Texte im Kapitel „Sexualität“, was sicherlich mit der thematischen Zone „unterhalb der Gürtellinie“ zu tun hat. Hier nur zwei der originelleren Beispiele: „Schlafzimmer oder Schlaffzimmer?“ (S. 63) / „Tod beim Sex: Ein Kommen und Gehen.“ (S. 64). Und schließlich als Variante einer Redewendung oder als „Antisprichwort“ (nach Mieder): „Geil allein macht auch nicht glücklich.“ (S. 67)
Mein Fazit: Das anhaltende Gefühl, sich mitten in einem therapeutischen Dialog zu befinden, wird durch die häufige Verwendung der Frageform, verstärkt, so auf S. 31: „Fühlen Sie sich wert, zu lieben und geliebt zu werden?“ / „Warum wollen Sie unbedingt, Ihre Ehe reanimieren?“ Außerdem auf S. 56: „Was ist der Ertrag einer guten Ehe?“.
Im Grunde beinhaltet das Buch eine Fülle von kurzen, lebenspraktischen Kommentaren, Ratschlägen, Empfehlungen und Fragestellungen, die aus der langjährigen therapeutischen Arbeit des Autors erwachsen sind. Die Bandbreite reicht von weitverbreiteten Meinungen und Ansichten bis zu durchaus ungewöhnlichen Erkenntnissen und Denkanzettelungen. Der Autor spricht hier im hinteren Klappentext von „…häufig provokativen oder auch komisch wirkenden Interventionen…“. Dem / der Lesenden sei in jedem Falle angeraten, diese geballte Ladung von Kurztexten mit anteiligem Rezeptcharakter nur dosiert zu sich zu nehmen.
JWD, Düsseldorf, 19.11.2019
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