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Jürgen Wilbert über:
Felix Renner: Das unerträgliche Schwinden der Reflexion. Bucher Verlag: München, Zürich 2020

Der Schweizer Aphoristiker Felix Renner, geboren 1935 in Zug, hat soeben (Juni 2020) seine 8. Aphorismensammlung veröffentlicht. Sie trägt den bedeutungsschweren, assoziativen Titel „Das unerträgliche Schwinden der Reflexion“, der den Rezensenten sogleich an das Erfolgsbuch von Milan Kundera denken ließ: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Renners jüngstes „Aphoristisches Kaleidoskop“ – so lautet der Untertitel – versammelt in 19 Kapiteln – von A wie „Allzu Helvetisches“ bis Z wie „Zeitverknappung“ Kurztexte aus jüngerer und jüngster Zeit. Der Schwerpunkt seines Schreibens liegt bei zeit – und gesellschaftkritischen Kommentaren, was sich nicht zuletzt aus seinem biographischen Hintergrund erklärt: er war bis zu seiner Pensionierung 1999 als Jurist tätig und arbeitete in den 1970er Jahren als Journalist, bevor er ab 1975 begann, Aphorismen zu schreiben.

In der Nachfolge berühmter Schweizer Aphoristiker wie u.a. Moser und Rychner beherrscht er die gesamte Bandbreite aphoristischer Stilmittel und setzt sie auch in seinem neuesten Werk in Verbindung mit seinem aufklärerischen Impetus versiert ein. Dies belegen die folgenden Textbeispiele (auf den Seiten 8 und 9): „Reflexionsverzicht ist Souveränitätsverzicht.“ / „ Wer quälenden Gedanken aus dem Weg geht, versinkt in die grössere Qual der Gedankenlosigkeit.“

Dieser zeitgeistkritische Aphorismus könnte ein passender Kommentar auf den Ausbruch der Corona-Pandemie sein: „ Stets haben wir uns an Denkmögliches gehalten – und jetzt überfällt uns auf einmal das Undenkbare.“ (10) Im Kapitel 2 „Lebensrätsel“ kommt Renners bisweilen pessimistisch-defätistische Weltsicht zum Ausdruck: „Unser Leben ist ein Lavieren zwischen optimistischen Impulsen und nackter Verzweiflung.“ (12) Zu seinen bevorzugten Stilmitteln zählen das Kontrapunktische und scheinbar Paradoxe: „Sein Leben war ein >strukturiertes Produkt<, komponiert im Laufe einer jahrzehntelangen, eher strukturlosen Produktivität.“ (15) >Positives Denken< nennt er „verlogen, weil es sich wider besseren Wissens über die Ambivalenz alles Menschlichen hinwegsetzt.“ (34)

Der Autor setzt sich an vielen Stellen des Buches mit modernen (Fehl-)Formen der Digitalisierung auseinander, so auch hier (Seite 17): „Worin unterscheiden sich Junge, die an digitaler Demenz, und Bejahrte, die an Altersdemenz erkrankt sind?“ An anderer Stelle – unter der Rubrik „Mediale Demenz“ – stellt er diesen gereimten, aphorismus-unüblichen Vergleich an: „Je vernetzter, desto verletzter.“ (70) Zum Thema des Sterbens hat er als Überschrift diese originelle Wortkombination geprägt: „Techtelmechtel mit dem Tod“. Seine aphoristische Definition der Intelligenz fällt überraschend und sehr eigenwillig aus: „(…) Intelligenz besteht im Wesentlichen aus der Unfähigkeit, die menschliche Dummheit zu unterschätzen.“ (36)

Eher schwächere, da allzu nahe liegende und kalauernde Wortspiele finden sich im Abschnitt über „Geschlechterkonfusion“ (37): „Könnte es sein, dass mindestens so häufig wie Not am Mann auch Not an der Frau ist?“ / „Sie kam so aufgedonnert daher, dass nur ein Blitzschlag hätte Abhilfe schaffen können.“ Die Zunahme der Gewalttätigkeiten gegenüber Frauen führt er geballt und überspitzt zurück auf die „zunehmende und schwer zu durchschauende (…) Brutalisierung, Kretinisierung und Bastardisierung unserer Gesellschaft.“ (39) Mitunter erschwert die Häufung abstrakter Termini die Lektüre, so in diesem Textbeispiel (39): „Er war adipös – und auch sonst in jeder Hinsicht generös. Sie anorektisch – und in puncto Empathie im Übermass eklektisch.“

Im Kernkapitel „Zwischen Moral und Moralin“ beschreibt er unter anderem den Typus des „Moralin-Allergikers“ und unterstreicht wiederholt seine skeptische Perspektive, wie z.B. in dieser paradoxen Begriffserklärung: „Bodenlosigkeit ist jetzt die neue Tiefe.“ (48) Und mit Blick in die Zukunft gerichtet: „Wahrscheinlich werden wir immer mehr Dinge tun müssen, die wir nie gewollt haben. Weil wir so frei waren, immer mehr Dinge zu tun, die wir nie hätten tun dürfen.“ In dieser vielsagenden Sentenz fühlt sich der Rezensent an Lichtenbergsche Sprachkunst erinnert. Auch dessen „Naserümpfen“ taucht bei Renner auf, und zwar in diesem Kontext: „Es könnte nicht schaden, jedes reflexartige Naserümpfen der Nachkontrolle eines bedächtigen Stirnrunzelns zu unterziehen.“ (47) Auch der „Weltbewegenden Dummheit“ ist ein Unterkapitel gewidmet (50 & 51), seine nicht gerade ermutigende Einsicht lautet: „ Dummheit wäre zu verkraften, wäre sie nicht fast ausnahmslos mit Verantwortungslosigkeit verbunden.“

In manchen seiner Aphorismen spürt der / die Lesende zu deutlich den ab und zu auch noch abwertenden moralischen Zeigefinger, wie auf S. 57 mit einer drastischen Zuschreibung: „Fast schon ein halber Held: das Schrumpfhirn auf halbmast, die Schlotterhose auf halbarsch.“ Des Öfteren stößt man auch auf die Verwendung der effektvollen Kreuzfigur (den Chiasmus), so wie in diesem Kommentar zur Bildung: „>Bildung< im Internet oder Internetisierung der Unbildung (…)“ (63) Doch nicht immer führt dieses Stilmittel auch zu einer tiefergehenden, inhaltlichen Pointierung. Besser gelungen ist das in diesem Aphorismus in Form einer abgewandelten Redensart im Kapitel „Von der Lüge zum Trumpismus“ (77): „Die einen lügen wie gedruckt, die andern glauben jede gedruckte Lüge.“

Einen Neologismus der besonderen Art hat Renner in seinen Ausführungen zum Klimawandel eingebaut: „ (…) Die letzten großen Feste , die wir mit euphorischer Endzeitwut begehen sollten, werden Klimakatastrophenmoratoriumsfeste sein.“ (93) Eine gewagte, da politisch inkorrekte und brisante These stellt der Autor zum Themenkomplex FREMDE (107) auf: „Wir können nicht ganz Afrika in Europa aufnehmen, aber wir können in den Augen aller Afrikaner ganz Europa zur (zum?) No-go-Area degradieren.“ Der neue Band – das „Aphoristische Kaleidoskop“ endet mit dem Kapitel „Zeitverknappung“; darin lohnt sich die Lektüre insbesondere der philosophischen Betrachtungsweise unserer inneren Uhr (160): „Unsere innere Uhr ist ein innerer Lügenapparat, der uns an jedem erträglichen Tag vorgaukelt, wir seien ein unauflöslicher Bestandteil eines ewigen Zeitkontinuums, und es werde, solle, ja müsse nun selbstverständlich ad infinitum alles so weiterlaufen wie bisher.“ Der Rezensent rät den an Aphorismen Interessierten, sich für die Lektüre dieser neuen Sammlung, um mit Renners eigenen Worten zu reden: „…alle Zeit der Welt (zu) nehmen…, um unserer Zeitgebundenheit zumindest zeitweise ein Schnippchen zu schlagen.“ Und schlussendlich sich an zeitgeistkritischer Sprachkunst zu erfreuen.
JWD, Düsseldorf (5.8.2020)

 

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