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Friedemann Spicker über:
Felix Philipp Ingold: Märzember. Sprüche und Gedichte. Wuppertal: Arco 2024.

 

Der Schriftsteller Felix Philipp Ingold, geb. 1942, der in vielen Rollen tätig ist: als Kulturkorrespondent und Rezensent, Übersetzer, Herausgeber und Slawistikprofessor, hat seit vielen Jahren, genauer seit „Haupts Werk“ (1984), eine Beziehung zur Gattung des Aphorismus, primär wie sekundär. Das habe ich zuletzt aus Anlass zweier Bände, „Aus beliebiger Prosa. Ein Hundert Lesespäne“ (2019), einer eigenständigen, der Intention des Autors gemäßen Aphorismensammlung jenseits der ursprünglichen Kontexte, und „Aus eigenem Anbau. Zwei Hundert Merksätze“ 2020, hier kurz dargelegt und dabei sein zentrales Thema, die Selbsterkundung als Schreibender gezeigt, unter anderem mit Übereinstimmungen zu Martin Walser und Peter Handke.[1] Als Literaturwissenschaftler hat er sich zum Beispiel mit Ludwig Hohl und Hans Albrecht Moser, mehr noch mit Albrecht Fabri[2] und Franz Josef Czernin auseinandergesetzt. Auf jede erdenkliche Weise hat er seine Arbeit innerhalb der kurzen literarischen Formen seither weitergeführt, so 2019 in einem Aufsatz,[3] in dem er feststellt, dass der Aphorismus „die optimale Lektüre für unsere Tage sein“ könnte, es aber offensichtlich nicht ist, weil für diese „letztlich elitäre Textsorte, die den aktuellen, eher nachlässigen literarischen Sprachgebrauch klar konterkariert, sich aber nicht dagegen zu behaupten vermag“, kaum noch ein kompetentes Publikum zu finden sei. Der „Versuch, den Aphorismus wieder auf den Punkt zu bringen“, in der Zeitschrift „Volltext“ 2021 geht in dieselbe Richtung.[4] Dort heißt es mit deutlichem Bezug zu der eigenen aphoristischen Arbeit – Theoretiker und Praktiker greifen ineinander –: „Vielfach konstituiert sich das Es des Aphoristikers aus der Sprache selbst, dort nämlich, wo Bedeutung allein aus dem Wort- und Gedankenspiel erwächst.“[5] Er stellt für eine Anthologie „Deutsche Aphoristik der Gegenwart“ Texte zur Verfügung, unter anderem auch ein Statement, das die Thesen des Aufsatzes zusammenfasst.[6] Und er gibt „Drei Hundert Dreizeiler“ in der Art des japanischen Haiku heraus, klugerweise aber nicht im strengen Silbenkorsett des Vorbildes, sondern nur „Haikulike“,[7] womit er sich, wie es im Nachwort heißt, von den Amateuren absetzen will, „die diese Textform ohne exklusiven Kunstanspruch als Spielvorlage nutzen – gewöhnliche Bastelei statt abgehobenes Dichtertum“. Er nimmt sich die Freiheit, die Form unter anderem durch häufigen Einsatz von Wortspielen und Paradoxien, die Verwendung von poetischen Metaphern und philosophischer („abstrakter“) Begrifflichkeit und auch durch die gesuchte Nähe zum Aphorismus oder Sinnspruch zu verändern. Zuletzt hat er zudem Franz Kafkas Zürauer Aphorismen einen Aufsatz gewidmet. Er spricht ihnen dieses Etikett in iner in sich schlüssigen Argumentation dezidiert ab, weil sie Kommentare erforderten; es seien Aufzeichnungen.[8] Dabei geht er wohl von dem klassischen Aphorismus-Begriff aus und diskutiert die Literatur, die sich an Gerhard Neumann (1968/1973) anschließt, nicht. (Calassos [2006] und Stachs [2019] Editionen werden allerdings diskutiert.)[9]

Aktuell liegen nun als „Auslese aus meiner Schreibarbeit 2022 bis 2015“ „Sprüche und Gedichte“ unter dem Titel „Märzember“ vor, bei dem sich unmittelbar manche Assoziationen zur Gleichzeitigkeit und Vereinbarkeit des Unvereinbaren bis hin zu Goethes „Faust“ einstellen (v. 1675ff.). Die Texte überschreiten die Grenze der aphoristischen Gattung zur Lyrik im Ganzen deutlich; ich konzentriere mich auf die Kapitel 1 („Wer oder was…“, S. 7-26), 6 („Auch das soll ein Gedicht sein…“, S. 83-127) und 8 („Aus welcher Ferne…“, S. 128-175), die von der Typographie her noch am ehesten die Nähe zum Aphorismus suggerieren. Die Texte legen die theoretisch entfalteten Beziehungen zu Kafka („Irgendwann halt eingestehn der Durst ist größer als die Wüste größer als das Meer.“, 9; vgl. 110, 127) wie zum Haiku (etwa: „Da! Der Tag beginnt mit Rost und Tau. Mit Knirschen und Glitzern; Wie jetzt.“, 9) vielfach im Detail offen.

Zwei Prämissen bestimmen die Arbeitsweise Ingolds, so auch dieses neue Buch, eine negativ orientierte, eine positiv bestimmte. Das Resümee, das ich vor 20 Jahren in meinem Ingold-Kapitel zog, er sei kein Weisheitslehrer, kein Artist, „von Wert ist in seinen Aufzeichnungen der fortwährende Schreibprozeß selbst“,[10] bestätigt der Autor in seinem Nachwort, das seinen Impuls zur Poesie explizit macht: „Schreib, damit Text sei!“; „Mir kommt’s mehr auf das Schreiben an als auf’s Geschriebene.“ (239) Wenn er vom Haiku sagt, es beschränke sich darauf, Wahrnehmbares, Wahrzunehmendes, Wahrgenommenes zu benennen und es solcherart sprachlich dingfest zu machen, statt zu bedeuten (Nachwort „Haikulike“), so gilt das im gleichen Maße hier. Dem Leser, der Leserin, die immerfort (und oft vergeblich) auf ‚Bedeutung‘ aus ist, gibt er diese Leseanweisung: „SCHWER / zu sein. / Wo alles / bedeutet.“ (56) Es wird eine eigene poetische Welt konstituiert, in der bis zur Frage „Blutgrün? Moosrot?“ (105) neue Ungewissheiten herrschen und der gegenüber der Wirklichkeit der Vorzug gebührt: „Was ist wohl drüben / in der Wirklichkeit los?“ (82); „Dass das Wirkliche (verglichen mit allem andern) das Wenigste sei!“ (104)

Positiv hängt mit diesem ‚Bedeutungsverlust‘ zusammen, dass seine Poesie aus dem Sprachkörper, dem Klang, lebt. Jenseits kruder ‚Bedeutung‘ führen Alliterationen, Assonanzen und andere Klangelemente den Schreibprozeß fort („Flocken“ – „Knoten“, 28; „Thea“ – „Theater“, 54; „Sonne“ – „Sohn“, 98, „Kuss“ – „Fluch“, 120). Das lässt den Kalauer („So weit die Scheidung reicht.“, 105) in der Gewissheit: „Oft wissen Kalauer mehr als die älteren Weisheiten.“ (76) so wenig aus wie das Zitat („Der Lattenzaun? Hindurchzuschaun!“)[11] oder stammelnd-stotternde Fügungen („ka-ra-krachende Hintertür“, 35; „knapp der Umsch…der Uns…der Unsicher…Unsichtbarkeit“, 120).

Formal auffällig sind die Fragen („Die Welt vergessen? All die Men und Schen und Interessen?“, 133), die infiniten Sätze („Warten auf Freitag als gehörte er zur Woche.“, 133), das Partizip Präsens, die Ellipse („Denken mit erstickter Stimme?“, 141) und insbesondere die doppelte Negation, dutzendemal von „Aber wer? Aber was? Nie ist der Pass nicht abgelaufen.“ (13) bis „[…] Das nie nicht allerletzte Wort. […]“ (213). Inhaltlich auffällig sind permanent auftretende semantische Bereiche wie die Leere, Licht und Schatten, Nacht, Blitz, die regelmäßig ins Surreale hinübergleiten:

„Nie – auch heute nicht – kann die Asche ihr Feuer vergessen.“ (93)
„Und doch erweitert sich die Nacht des Wissens. Am besten zu sehn bei abnehmendem Mond.“ (90)
„Noch ein Blitz in Pillenform! Und wie der Gaumen – auch ein Firmament! – erstrahlt. Mehr Licht geht nicht. Nicht aufs Mal.“ (100)

Nicht zu vergessen daneben sind, nicht zum ersten Mal, die Selbsterkundung, also Identitätsfragen um Ich und Wir und Du („Anderseits „ich“ als Schlüssel zu jeglicher Ferne. Also auch zu dir.“, 129; „Wie den Abgrund vermessen, der einen von sich selber trennt? Oder einfach ihn meiden?“, 136) sowie die autoreflexiv poetologische Ebene, so im Sonett „Dies“ (30) etwa, „[…] Wo jede Zeile des Sonetts mit einem Wo / beginnt. […]“, so zur „Bedeutung“ („Fürs Schreiben taugt eher die Ebene. Nebenher läuft die Bedeutung. Sie zu stürzen macht Sinn und…“, 102) oder zum Verhältnis von Text, Satz und Schrift („Dass das Geschriebene – zum Beispiel dieser Satz hier – mit der Schrift identisch sei. Der Text – zum Beispiel dieses Gedicht – ist der Schrift bestenfalls ähnlich.“, 84). Nach den vielen Zitaten, die die – sekundäre – Beschreibung durch das Primäre unterfüttern sollen, ein letztes als ein großes doppeltes Bekenntnis des Autors, das seine literarischen Arbeiten insgesamt überformt: „Und die Hungerkünstler ausgestorben. Die Kunst dahin. Bleibt nur der Hunger.“ (135)

 

[1] https://www.dapha.de/rezensionen/felix-philipp-ingold-aus-beliebiger-prosa/

[2] Fabri ist ihm ein besonders wichtiger Gewährsmann, wie auch aus dem Motto zu dem Band „Aus beliebiger Prosa“ erhellt. Vgl. Felix Philipp Ingold: Ohne Wozu und Wohin. Albrecht Fabris „Gesammelte Schriften“ zur Kunst und Literatur. In: Die ZEIT Nr. 38 v. 14. 9. 2000, S. 65.

[3] Felix Ingold: Der Aphorismus wäre die ideale Lektüre für unsere Tage. Aber wo bleibt die spitze Feder? In: Neue Zürcher Zeitung 19. 12. 2019; <https://www.nzz.ch/feuilleton/der-aphorismus-waere-die-optimale-textsorte-fuer-unsere-tage-ld.1529000>

[4] Felix Philipp Ingold: Der kurzen Rede langer Sinn. Ein Versuch, den Aphorismus wieder auf den Punkt zu bringen. (VOLLTEXT 1/2021); https://volltext.net/autoren/felix-philipp-ingold/

[5] Ebd., S. 26.

[6] Friedemann Spicker, Jürgen Wilbert (Hrsg.): Deutsche Aphoristik der Gegenwart. Eine aktuelle Bestandsaufnahme. Mit Bildern (Mixed Media) von Razeea Lindner. Düsseldorf: Virgines 2023 (dapha-drucke 14), S. 261-266. Die Texte sind in „Märzember“ aufgenommen.

[7] Felix Philipp Ingold: Drei Hundert Dreizeiler. Haikulike. MolokoPrint 2022.

[8] Felix Philipp Ingold: Kafkas unvollendete Aphoristik. Eine kritische Revision. In: Friedemann Spicker, Jürgen Wilbert (Hrsg.): Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen im Aphorismus. 10. Aphoristikertreffen in Hattingen. Fachbeiträge • Aphorismen • Illustrationen. Dokumentation zum 10. Internationalen Aphoristikertreffen vom 25. bis 26. Mai 2024 im Stadtmuseum Hattingen / Ruhr. Mit Illustrationen von Marlies Blauth. Düsseldorf: Virgines 2024, im Druck.

[9] Ich habe im Anschluss an Neumann Kafkas Aphorismus nicht aus der Gattungsgeschichte ausgeschlossen, sondern bin bei ähnlichen Befunden wie Ingold zu der These gekommen, er begründe als autonomer Bild-Aphorismus einen neuen Zweig der Gattungsgeschichte. Die Sekundärliteratur und die entsprechende Darstellung bei: Friedemann Spicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 219-233 und 304-307.

[10] Spicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert, S. 616.

[11] Christian Morgenstern: „Der Lattenzaun“, dem es wie dem Wiesel auf einem Kiesel geht („Das raffinier- / te Tier tat’s um des Reimes willen.“).

 

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