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Friedemann Spicker über:
Felix Philipp Ingold: Aus beliebiger Prosa. Ein Hundert Lesespäne. Mokolo 2020; Aus eigenem Anbau. Zwei Hundert Merksätze. Mokolo 2020.
Aphorismen sind kotextuell isoliert oder zumindest isolierbar; das Kriterium der Autorintention schließt von Herausgebern exzerpierte Texte – Sekundäraphorismen könnte man sie nennen – aus. So darf man wohl die herrschende Forschungsmeinung zusammenfassen.[i] Was ist aber, wenn es eine doppelte Autorintention gibt? Wenn der Autor zunächst die Sätze in einem Kontext darbietet und später ein eigenes Exzerpt daraus erstellt und sie so isoliert? Der Schweizer Schriftsteller und Übersetzer Felix Philipp Ingold legt, wie es in seiner Vorbemerkung heißt, „rund zweihundert solcher Einzelsätze und -verse aus zwei Dutzend eigener Buchwerke“ – „Aus eigenem Anbau“ – „als beiläufige Fundstücke“ vor, die ihm „beim Überfliegen der vergessenen Texte nur einfach auf- und zugefallen“ seien (S. 7). Damit steht er nicht allein. Solche Sekundär- oder Brevieraphorismen haben vor ihm schon Aphorismusautor(inn)en wie Gertrud von Le Fort, Karl Heinrich Waggerl oder Thomas Niederreuther veröffentlicht. Und das „Durchforsten“ eigener Aufzeichnungen ist auch hinlänglich bekannt, etwa von Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka und zuletzt Martin Walser. Wie steht es nun mit der aphoristischen Qualität dieser von Ingold selbst herausgelösten Sätze?
Der Verfasser ist seit vielen Jahren und mehrfach mit der Gattung in Beziehung, primär wie sekundär. Der Schreibprozess selbst ist es, der für ihn dabei in jedem Fall im Fokus steht. So hat schon 1990 eine Dissertation „aphoristische Struktureffekte“ auch in seinem Werk („Haupts Werk“, 1984) untersucht,[ii] das „Freie Hand“ betitelte „Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder“ (1996) steht für die Tendenz zu Mischformen.[iii] Ingold hat, gleichfalls von der Gattung her, Ludwig Hohl wie Hans Albrecht Moser, mehr noch Albrecht Fabri[iv] und Franz Josef Czernin rezipiert. Und erst jüngst konnte man sich mit seiner These auseinandersetzen, der Aphorismus, „eine letztlich elitäre Textsorte, die den aktuellen, eher nachlässigen literarischen Sprachgebrauch klar konterkariert, sich aber nicht dagegen zu behaupten vermag”, könnte „die optimale Lektüre für unsere Tage sein“, das sei aber offenkundig nicht der Fall.[v]
Der erste („Ich als der, der das Gedicht aufschreibt, muss das erste Wort haben.“, S. 9) und der letzte Satz („Was ich geschrieben habe, habe ich nicht.“, S. 105), den Ingold „Aus eigenem Anbau“ exzerpiert, bezeichnen sein Thema, wie es in diesen poetischen Kernen, zwischen Prosagedicht und Aphorismus, erst recht klar zum Ausdruck kommt: Ich als Schreibender. Was es damit auf sich hat, dass er nicht „hat“, was er „geschrieben hat“, das erschließt sich, wenn man ein anderes Exzerpt als Leseanweisung versteht: Der Leser „hat vom Werk auszugehen, um ihm im Akt der Anschauung oder Lektüre eine eigene Sinndimension zu geben, statt wie üblich hermeneutisch auf das Werk einzugehen und es auf das hin abzufragen, was als Bedeutung hinter ihm steht und als wie immer geartete Aussage durch es hindurchscheint.“ (S. 105) „Eine eigene Sinndimension geben“: das geht über das hinaus, was dem Aphorismuskenner als die Forderung nach der spezifischen Aktivität des Rezipienten bekannt ist. Zwei Varianten der Gattung zeigt der Band, die klassische Form und eine, quantitativ bei weitem stärkere, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts und zumal in der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart zu beobachten ist.
„Das Leben kennt kein Gegenteil.“ (S. 41)
„Unsterblichkeit kommt immer zu spät.“ (S. 99)
„Frieden ist in Friedenszeiten nichts.“ (S. 61)
Die All-Aussage von generellem Anspruch (kein, immer, nichts), aus der Überspitzung zu verstehen oder als Anmaßung zu kritisieren, kennzeichnet die Gattung seit je. Die betonte Subjektivität, verbunden mit dem erweiterten Geltungsanspruch des Bildes, dringt in Deutschland mit Franz Kafka in die Gattung ein, später dann bei Elias Canetti, auch bei weniger bekannten Autoren wie Walter Helmut Fritz oder Dieter Leisegang, radikalisiert in Peter Handkes Journalen und dem vielfältigen aphoristischen Werk Martin Walsers.
Und mit Walser und Handke sind auch die beiden Autoren genannt, zu denen Ingolds „Aus eigenem Anbau“ die augenfälligsten Übereinstimmungen zeigt. Ich greife je drei Aspekte thematischer wie formaler Art heraus, die sich zum Teil überschneiden, Schmerz, Negation und Ich-Erkundung zu Walser, Selbstaussage, Natur, Schreibreflexion zu Handke. Wenn sich das Thema des Schmerzes, eher psychischer als physischer Art, über dreißig Jahre und mit zunehmender Tendenz durch Walsers Aphorismenbände zieht, so wird man hier in auffälliger Weise daran erinnert:
„Wer ist der Schmerz, der uns eint?“ (S. 15)
„Der Irrtum, der Schrecken, der Schmerz waren immer auf meiner Seite.“ (S. 39)
Ein Satz wie der folgende liest sich geradezu wie einer aus dessen Meßmer-Sammlungen: „Wort für Wort das ganze Leben in die Nadelspitze eingraviert – der schwärzeste Roman, der ich nun einmal bin.“ (S. 13) Auch an Ilse Aichinger ist zu denken, die nicht von ungefähr in dem zweiten Band zur Sprache kommt. Die schmerzliche Ich-Erkundung ist aber nicht so manisch gestaltet wie bei Walser, sondern sie gliedert sich eher in den für zwingend erachteten Zusammenhang von Leid und Erkenntnis ein, wie er bei den Aphoristikern oft, fast durchgehend zu beobachten ist: „Seltsam, dass der Schmerz um so viel näher bei der Wahrheit ist als das Glück.“ (S. 27) Wenn bei Walser die Negation stellenweise zur alles beherrschenden Figur wird, so nimmt sie auch hier eine bedeutende Rolle ein:
„Interessant ist vor allen Dingen das, was es nicht gibt.“ (S. 18)
„Wie da alles nicht zusammenpasst.“ (S. 29),
vermehrt in der Form der eigenwilligen doppelten Negation: „Der gute Grund ist das, was nie nicht beginnt.“ (S. 68 und 98; vgl. S. 11, 82, 84) Explizit und in dunkler Metaphorik erklärt der Autor von sich selbst: „Blödigkeit ist das, was ich noch erreichen möchte, die Hochform des Nichtwissens, die Nacht des Erkennens.“ (S. 53) In der Selbsterkundung lassen sich zu Walser wie vor allem zu Handke Parallelen erkennen:
„Ich darf eigentlich alles, solang ich‘s nur geschehen lasse.“ (S. 46)
„Der beste Arzt, den ich in meinen langen Krankheitsjahren hatte, war mein Körper; der zweitbeste – ich.“ (S. 36)
Sie geht einher mit vergleichbarer Naturverbundenheit, man könnte sagen: Naturreligiosität:
„Wer weiss, was der Regen in den Stein schreibt, wenn er ihn fegt und peitscht.“ (S. 53)
„Der Biss ins Gras ist Gebet.“ (S. 72)
Zur Schreibreflexion schließlich möchte ich neben den Texten des Rahmens, die sein Thema bezeichnen, und dem Affekt gegen gegen die „verluderte Alltagssprache“ (S. 30) mit Bezug auf Handke nur die poetologischen Selbstanweisungen zitieren:
„Dort! das Gesetz; worauf – schau! – gleich die Tat folgt; es zu brechen.“ (S. 17)
„Lies schon, mach schon, vielleicht ist es nichts, das Menschenmögliche.“ (S. 57)
Diese Parallelen – das ist hier nicht auszuführen – lassen sich bis zu überraschenden Gleichklängen verfolgen:
„Doch zurück zu den Gedanken, die ich noch immer intus habe … die ich habe, weil ich sie vergessen habe.“ (S. 22)
„Ich warte geduldig auf die Gedanken, die ich nicht will – die erst zählen”.[vi]
Nur auf zwei Aspekte in Ingolds „Aus eigenem Anbau“ will ich noch kurz aufmerksam machen: Paradoxie und Bildlichkeit. Eine neue Form von Paradoxie, wie sie hier begegnet, steht zum einen im Zusammenhang mit seiner Sprachreflexion, wie sie in einem seiner Axiome zum Ausdruck kommt: „Dieses Paradox ist darauf zurückzuführen, dass Authentizität nicht durch Sprache, sondern einzig als Sprache zu realisieren ist.“ (S. 45). Zum andern hängt sie mit seiner spezifischen Metaphorik zusammen:
„Und warten alle auf die Flamme, die das Feuer löscht.“ (S. 33)
„Es braucht den Dunst, damit man diese Klarheit hat.“ (S. 76)
„Aus eigenem Anbau“ erweist sich mit seinen poetischen Kernen je länger je mehr als eigenständige, der Intention des Autors gemäße Aphorismensammlung jenseits der ursprünglichen Kontexte.
Anders steht es mit den hundert „Lesespänen“ „Aus beliebiger Prosa“. Der Band ist heterogen: Es finden sich Exzerpte aus Briefen, Tagebüchern, Romanen und auch aus wissenschaftlichen Werken, insbesondere zu Philosophie und Sprach- und Literaturwissenschaft. Das reicht von Kafka und Ernst Jünger bis Georges Bataille und Roman Ingarden. Er ist heteromorph: Er bietet (1) ursprünglich isolierte Sätze, so von Ilse Aichinger („Kleist, Moos, Fasane“; Nr. 36 „So suchen, dass Finden nur ein Teil des Nichtfindens ist.“) oder Franz Kafka („Zürauer Aphorismen“; Nr. 29 „Wahrheit ist unteilbar, kann sich also nicht selbst erkennen; wer sie erkennen will, muss Lüge sein.“). – Er bietet (2) Sätze von generellem Anspruch (Albrecht Fabri; Nr. 17 „Kunst, die etwas will, das heißt nicht schon selber die Sache ist, ist eben keine Kunst.“),[vii] zum Teil aus einem nicht-diskursiven Kontext neu isoliert (Ludwig Hohl, Nr. 76).[viii] – Er bietet (3) isolierte Sätze, narrativen oder theoretischen Ursprungs, von lediglich privater Bedeutung. Was folgert der Leser ohne den Kontext aus Felix Hartlaubs Tagebuch-Auszug von 1941: Nr. 21 „Kohlkopf, Menschenkopf, Melone – es kam gar nicht so genau darauf an.“?[ix] Was schließt ihm Undine Gruenters Schluss einer kurzen Traumsequenz auf (Nr. 15 „Dann renne ich hinter dem Mann her, er verschwindet im Bahnhof, ich suche die Gleise ab, und jemand sagt, Othello hat den Zug genommen.“)?[x] Was entnimmt er – extremes Beispiel – aus dem Kürzestexzerpt Gérard Genettes (Nr. 87 „Ich hätte lieber…“), das an Bartlebys „Ich möchte lieber nicht“ erinnert? Der „Lesespan“ aus Roman Ingardens Werk (Nr. 100 „Es ist aber noch eine Schwierigkeit zu überwinden.“) wird nicht nur durch die Isolierung, auch durch die Finalstellung in neuem Sinne aufgeladen. – Und der Band bietet (4) ausnahmsweise auch längere narrative Pasagen (Nr. 84 Hermann Broch: „Vergil“). So aufschlussreich er damit aus biographisch-poetologischer Perspektive ist, unter Gattungsgesichtspunkten bleibt es bei einer vielgestaltigen, kleinen, persönlichen Anthologie.
Wenn es in jüngerer Zeit vermehrt Anlass gibt, darüber nachzudenken, ob die Isolation des Aphorismus möglicherweise zu relativieren ist und das angemessene Gattungsverständnis eher ein funktionales als ein merkmalhaftes sein sollte,[xi] so befördert Ingold gerade durch das Nebeneinander beider Bände die Diskussion. Die Spannung von Funktion einerseits, Autorintention – und sei es eine doppelte – andererseits bedarf dabei weiterer Reflexion.
[i] Vgl. Verf.: Der Aphorismus im Kontext. In: Lichtenberg-Jahrbuch 2015, S. 240-251.
[ii] Ulrike Greiner-Kemptner: Der Diskurs des Anderen jenseits der Rede des Subjekts – Transgression als Liquidation des Subjekts: Aphoristische Struktureffekte als Praxis des Textes bei Felix Philipp Ingold und André Vladimir Heiz. In: U. G.-K.: Subjekt und Fragment. Textpraxis in der (Post-)Moderne. Stuttgart 1990, S. 171-228),
[iii] Vgl. Karl Riha: Rez. Ingold, Freie Hand. In: Lichtenberg-Jahrbuch 1996, S. 234-236.
[iv] Fabri ist ihm ein besonders wichtiger Gewährsmann, wie auch aus dem Motto zu dem Band „Aus beliebiger Prosa“ erhell; vgl. Anm. 7. Vgl. Felix Philipp Ingold: Ohne Wozu und Wohin. Albrecht Fabris „Gesammelte Schriften“ zur Kunst und Literatur. In: Die ZEIT Nr. 38 v. 14. 9. 2000, S. 65.
[v] Felix Philipp Ingold: Der Aphorismus wäre die ideale Lektüre für unsere Tage. Aber wo bleibt die spitze Feder? In: Neue Zürcher Zeitung 19. 12. 2019 (https://www.nzz.ch/feuilleton/der-aphorismus-waere-die-optimale-textsorte-fuer-unsere-tage-ld.1529000).
[vi] Peter Handke: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975-März 1977). Salzburg 1977, S. 116
[vii] Albrecht Fabri: Der schmutzige Daumen. Gesammelte Schriften. Hg. von Ingeborg Fabri und Martin Weinmann. Frankfurt 2000, S. 473.
[viii] Ludwig Hohl: Die Notizen oder von der unvoreiligen Versöhnung. Frankfurt 1981, S. 22 („Vom Arbeiten“, Nr. 17).
[ix] Es handelt sich um eine Marktszene aus dem Krieg in Rumänien, die der Soldat Hartlaub beobachtet (F. H.: Das Gesamtwerk. Frankfurt 1959, S. 126).
[x] Undine Gruenter: Der Autor als Souffleur. Journal 1986-1992. Frankfurt 1995, S. 388.
[xi] Verf.: Kotext und Kontext. Der Aphorismus in seinem Umfeld. In: Sprachkunst 50, 2019, S. 23-51.
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