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Hans Norbert Janowski über:
Franz Josef Czernin: widersprüche sind die hilferufe des denkens. Aphorismen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Friedemann Spicker. Düsseldorf: Edition Virgines 2022. 203 S., € 14.

 

Der Wiener Literat, Lyriker und Essayist Franz Josef Czernin hat 1992 ein Werk mit dem Titel „aphorismen“ publiziert: acht Bände mit etwa tausend Aphorismen. Mit diesen Aphorismen der besonderen Art wollte Czernin keine unterhaltsamen Reflexionen und Lebensweisheiten präsentieren; diese Gattung von kurzen Sätzen sollte ihm vielmehr „sein dichterisches Erproben der Bedingungen der Möglichkeit von sprachlicher Erkenntnis“ ermöglichen, wie der Aphorismusforscher Friedemann Spicker erläutert.

Spicker hat sich lange Zeit mit diesem Aphorismen-Labyrinth beschäftigt, es entschlackt und schließlich 2022 eine konzise Auswahl herausgegeben. Das Faszinierende an Czernins Unternehmen und Spickers konzentrierter und kommentierender Wiedergabe ist: Der Aphorismus erweist sich als ein Medium, dessen Kürze und Variabilität methodische Experimente mit den Bedingungen für das Erkennen durch Sprache zulässt. Man kann mit seriellen Varianten, Wechselbeziehungen zwischen den logischen, empirischen, grammatischen und semantischen Ausdrucksformen experimentieren. Vor allem: Die aphoristische Form nimmt eine Mittelstellung zwischen Denken und Dichten, Wissenschaft und Literatur, Begriff und Bild, Satzlogik und Metapher ein; der Aphorismus hat als literarische Gattung die ausgeprägte Eigenheit, sich selbstreferenziell auf die eigene Form, ihren dialektischen Herzschlag zurückzubeziehen.

„Die Position zwischen Wissenschaft und Dichtung, die Czernin mit seinem Aphorismusverständnis einnimmt, ist bestimmt von Wissenschaftsskeptizismus und einem hypothetischen Sprechen, in dem Zweck und Mittel zusammenfallen und das nur als Dichtung möglich ist“ (S.10) – so charakterisiert der Herausgeber das Spannungsfeld, in dem Czernin mit Aphorismen seinen Erkundungsfeldzug betreibt.

Ein gleichsam natürlicher Hintergrund für solch ein experimentelles Spiel bildet das aphoristische und sprachphilosophische Milieu von Wien und Prag: Namen wie Kafka und Kraus, Canetti und Wittgenstein gehören zu den Zeugen, darüber hinaus aber vor allem Lichtenberg und Novalis und schließlich Eco. Czernin und Spicker führen die Exkursion durch den Organismus des Denkens auf mehreren Ebenen der Betrachtung durch. Deren Gliederung orientiert sich an den Mitteln aphoristischen Schreibens: den Verfahren und Prozessen (beim Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Wissen und Glauben, Fragen und Verstehen etc.), an den Begriffen von Wirklichkeit, Körper, Zufall; schließlich an Bildbereichen wie den vier Elementen sowie Natur, Handwerk und Gesicht.

Der Herausgeber Friedemann Spicker leistet durch Einführungen in die einzelnen Kapitel eine überaus hilfreiche Orientierungshilfe. Ich kann hier nur auf zwei dieser denkkombinatorischen Spielflächen ein Schlaglicht werfen: „Dichtung“ und „Sprache“, die unter dem Stichwort „Mittel“ abgehandelt werden.

Zur Sprache: „orakel: die sprache ist nicht die lösung für jene probleme, die das denken aufwirft, sondern selbst eines jener probleme“, schreibt Czernin – und Spicker erläutert: „Im Verhältnis zur Sprache geht der Autor von der Umkehrung von Problem und Lösung aus“. – „atout: das haus der sprache besteht aus jenen karten, die es dann, wenn sie ausgespielt werden, zusammenstürzen lassen“; Spicker dazu: „Die Fragilität der Sprache als Ausdrucks- und Erkenntnismittel stellt sich bildlich in einer Figur der Selbstimplikation dar: im Ausspielen zusammenstürzen.“ – „alles, was gesagt wird, wird von der frage erzeugt, ob es der sprache untergeordnet werden muss oder die sprache ihm“. „Auf dieser Linie liegen die Frage nach der logischen Ordnung der Sprache und dem in ihr Mitgeteilten sowie ihre pointierte Definition im Hinblick auf das Verhältnis von Wahrnehmung und Gedanke“, kommentiert Spicker. Czernins Folgerung: „aphorismus: die sprache ist die rache der wahrnehmungen an den gedanken“. (S. 26f.)

Zur Dichtung notiert Czernin u. a.: „dichten: so sprechen, dass der begriff von einer sache und die sache selbst das gleiche sind.“ Dazu Spicker: „Sprache steht zuvörderst nicht für etwas anderes, sondern für sich selbst.“ – „dichten: so in worten denken, dass man das, was man denkt, deshalb denkt, weil man in worten denkt.“ „Das Denken in Worten bezieht sich auf sich selbst“, kommentiert der Herausgeber. – „sätze sind nicht nur die mittel, um auszudrücken, was man meint. Sondern sie sind auch der zweck, um dessentwillen sie als mittel gebraucht werden“. Dazu meint Spicker: „In den Sätzen der Dichtung sind damit Ursache und ‚Wirkung‘, Mittel und ‚Zwecke‘ identisch; das Denken in Worten bezieht sich auf sich selbst.“ Und Czernin: „aphorismus: die dichtung ist der stets scheiternde versuch, den augenblick festzuhalten, da sich ein ding in ein zeichen verwandelt“. (S.40. 44)

Während der unablässigen Erkundungsgänge durch die Katakomben der sprachlichen Erkenntnis beschäftigt Czernin immer wieder die Problematik, die er in dem Aphorismus ausdrückt, den Spicker zum Titel der Auswahl macht: „widersprüche sind die hilferufe des denkens“. Polare, konträre, antagonistische und kontradiktorische Gegensätze, Paradoxien und Antinomien begegnen einem auf Schritt und Tritt und rufen nach, vielleicht dialektischer, Auflösung – ebenso wie die Metapher als Verbindung von Wort und Bild. Czernin dazu: „metaphern sind das, was einen fühlen macht, was man weder hören noch sehen kann“. (S. 45)

Es zeigt sich: Die Form des Aphorismus eignet sich gut, um der Erkenntnis durch Sprache auf die Spur zu kommen. Friedemann Spickers einführende Kommentare und Erläuterungen erleichtern die anstrengende Spurensuche im Unterholz der sprachlich-poetischen Erfassung der Wirklichkeit auf einsichtige und eindringliche Weise. Wer sich darauf einlässt, kann wie ein Bergwanderer mit Orientierungsstrapazen, Entbehrung, aber auch sicherem Tritt und Genuss rechnen. Die Verbindung zwischen dem großartigen aphoristischen Puzzle von Franz Josef Czernin und der auf Spurensicherung angelegten Kartographie Friedemann Spickers sichert den Gang durch ein schwieriges Gelände mit lohnenden Ausblicken und Erkenntnissen.

 

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