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Friedemann Spicker über:
Elazar Benyoëtz: Treffpunkt Scheideweg. Eine Lesung. Würzburg: Königshausen und Neumann 2022.

 

„Treffpunkt Scheideweg“ von Elazar Benyoëtz ist kein neues Buch. Mit dem Band von 1990 setzte nach den reinen Aphorismenbüchern eine Reihe neuartig strukturierter Bände ein, in denen sich neben Aphorismen eine Komposition von tagebuchähnlichen Kurzberichten, Lektürekommentaren und literarhistorischen Exkursen, von Lyrik, Briefauszügen, Zitaten und Selbstzitaten fand. Zum ersten Mal erprobte der Autor hier die Mittelachse. Der mit Benyoëtz Vertraute wird also mithin hier unter anderem das Droste-Kapitel („Die Judenbuche“), die Chamisso-Preisrede, die Erinnerung an Falkensohn Behr, die Briefe von und an Clara von Bodmann, Hans Mayer, Harald Weinrich und anderes wiederfinden oder auch wie neu auf einen der frühesten Texte, das Gedicht „1 Berlin 21“ von 1965 stoßen (1990: 119; 2022: 208). Der neue Leser wird ein schon historisches Zeugnis der verloren gegangenen deutsch-jüdischen Symbiose zur Kenntnis nehmen („Identitäuschung“ (1990: 129; 2020, 225 isoliert-herausgehoben) und darüber hinaus mit zahlreichen Texten belohnt, die mittlerweile zu aphoristischen ‚Klassikern‘ geworden sind, nehmen wir nur „Das Wissen von Gott ist grenzenlos beschränkt“ (1990: 60; 2022: 113) oder „Ist Gott tot, dann ist die Welt sein Grab und ich bin seine Inschrift“ (1990: 61; 2022: 114) oder „Mit jeder Enttäuschung rücken wir unsrer Hoffnung näher“ (1990: 180; 2022: 318), alle drei in der Textgestaltung verändert (dazu unten).

„Treffpunkt Scheideweg“ ist also kein neues Buch. „Treffpunkt Scheideweg“ (2022) ist ein neues Buch. Dieser eklatante Widerspruch will mit einigen Beobachtungen erklärt sein, die keinerlei Hinweis auf Vollständigkeit erheben – das bleibt späterer textkritischer Arbeit vorbehalten –, sondern jeweils nur exemplarisch herausgehoben werden. Der Autor schreibt: „Der Textbestand dieser Neuausgabe bleibt weitgehend unverändert, nicht aber die Textgestaltung.“ (347) Das ist im Einzelnen zu erläutern.

Zum Textbestand: Die Texte in sich sind so gut wie nicht verändert. Aber auch hier fällt der sorgfältigen Lektüre Neues in den Blick. So ist – nach dem neuen Untertitel „Eine Lesung“ – als Hommage an den kürzlich verstorbenen Harald Weinrich ein Ankündigungstext von ihm vom 16. Mai 1990 vorangestellt, so ist ein Abschnitt „Welt nach innen verlegt / und verlegen geäußert (1990: -; 2022: 223) eingefügt. Es finden sich neue Widmungen („In Erinnerung an Ulrich Sonnemann“, 2022: 242; 1990: -). Herauszuheben ist die relativ häufig zu erkennende Tendenz, Textteile als fett-kursiv herausgehobene Zeile an den Seitenanfang zu setzen („Ist man beredt, / bedarf man des Zuspruchs nicht“, 2022: 105; 1990: -, „Reichweite des Vergeblichen“, 2022: 305; 1990: -, „Angewennt und ausgeabert“, 2022: 137; 1990: -), gewissermaßen als Titel oder Untertitel („Rot und schwarz“, 1990: 29) – „Rot und Schwarz / Oder: Ich tu mein Bestes, / so schlecht ich’s kann“, 2022: 62); „Im Schein ist man glänzend aufgehoben“ ( 2022: 231; 1990: -). Die Bearbeitung ist vereinzelt deutlich als Ergebnis neuerlicher Assoziationstätigkeit zu erkennen („Die Golemiden“, 1990: 83 – „Die Golemiden; die Golem-Jiden“, 2002: 147). Auch andere markante Einzelbeispiele fallen auf, bei denen erst eine gründliche textkritische Fassung weitergehende Schlüsse erlauben wird, etwa auf die Zurückdrängung des Wortspiels („Kein Zweifel mehr – / Dreifel“, 1990: 102 – „Zweifel, / dreifach“, 2022: 181). Schließlich sind die Anmerkungen in einzelnen Fällen aktualisiert, so zu 313/317.

Zur Textgestaltung. Das Neue zeigt sich besonders in den verschiedensten Möglichkeiten der Neuakzentuierung. Die großzügige Anordnung erklärt nicht nur den stark vermehrten Seitenumfang (1990: 197; 2022: 355), sie hat vor allen Dingen eine eigene sinnerschließende Funktion. Diese neue Akzentuierung ist dort zu erkennen, wo der alte Text einen Abschnitt bezeichnet („Auf Holzwegen, den Bäumen nicht mehr gewachsen“ (1990: 52; 2022: 99). Statt des alten kursiven Titels „Zukunft heißt prophetisch Umkehr“ heißt es jetzt „Umkehr ist die Idee des Ursprungs“ (1990: 58; 2022: 108), wobei der alte Titel den ersten Satz bildet. Die sorgfältigste Selbtredaktion schließt auch einzelne Textumstellungen ein (1990: 56; 2022: 104/105); im Einzelfall wird der Text in einen ganz anderen Kontext gerückt („Das Wort wie Brot brechen“, 1990: 101; 2022: 237). Das führt bis zu Fällen, die im Hinblick auf die aphoristische Isolation besonders aussagekräftg sein können, so, wenn zwei selbstständige Aphorismen (1990: 53) in neuer, durch die Interpunktion unterstrichener Interpretation so gestaltet sind: „Senke den Blick und behalte deine Welt im Auge: / Ein dünner Himmelsstrich nach so viel Erde“ (2022: 100). Die Anordnung in der Mittelachse ist (noch) weitergetrieben, selbst beim Zitat (Ricarda Huch: 2022: 132; 1990: 73). Und die Neubearbeitung macht auch vor der Interpunktion nicht halt. Das ist keineswegs trivial. Ist hier etwa im Interrogativpronomen, das den formalen Aussagesatz abschließt, eine bedeutende skeptische Entwicklung im Kleinsten angedeutet: „Worin Juden und Deutsche zusammentreffen können“ (1990: 142) – „Worin Juden und Deutsche zusammentreffen können?“ (2022: 250)? Schließlich ist auch der Satz stellenweise verändert, auch das ein Merkmal, das das alte Buch aus dem Flächigen heraushebt und gewissermaßen ins Dreimensionale strukturiert. Es setzt ebenso Akzente, wenn Textpartien oder Zitate größer (z. B. 2022: 330f.; 1990: 188f.; 1990: 161) oder kleiner gesetzt sind (2022, 116; 1990: 62), wie die Tatsache, dass Textpartien enger gesetzt (und damit hierarchisch herabgestuft?) werden (2022: 91f. – 1990: 48f., 2022: 109 – 1990: 58, 2022: 70 – 1990: 33f.). Das gilt auch für die teilweise neue Absatzgliederung (so 1990: 73; 2022: 133). Wohl eher eine rein redaktionelle Änderung ist es wohl, wenn Texte jetzt auch typografisch als Zitate ausgewiesen werden (1990: 188f.; 2022: 330f.). Einfach ausgeschlossen worden ist hingegen wenig, so „Wortspiele verscheuchen die Todesangst vor der Sprache“ (1990: 27; 2022: -) oder „Verwirklicht – verwirkt“, 1990: 90: 2022: -).

Wie man sieht, ist durch die Summe der Textgestaltungsmerkmale also die Aussage relativ weitgehend berechtigt, dass ein neues Buch vorliegt. Damit fügt sich „Treffpunkt Scheideweg“, auch in der Ausstattung, äußerst würdig als zehnter Band in die Reihe von Benyoëtz‘ kreativen Neufassungen im Verlag Königshausen und Neumann ein.

 

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