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Friedemann Spicker zu:
Ben Grant: The aphorism and other short forms.
London: Routledge 2016.

Mit Grants Buch, an der Universität von Kent entstanden, liegt eine höchst eigenwillige Einführung in die Gattung vor. Es hat weniger den Aphorismus im engen Sinne als das Aphoristische und Fragmentarische in vielerlei Form zum Thema.

Im Hintergrund stehen die französischen Theoretiker Maurice Blanchot, Jean Baudrillard, Roland Barthes („Der Tod des Autors“) und Jacques Derrida mit seiner aphoristischen Überspitzung „toute écriture est aphoristique”, die ein Maximum an Universalitätsanspruch mit einem Minimum an inhaltlicher Substanz erkauft. Der Autor will den Aphorismus doppelt verstanden wissen: „as a specific short form and as the general term for all short forms.“ (2) Er gibt im ersten Kapitel einen historischen Überblick; in den Kapiteln 2 bis 7 behandelt er verschiedene und verschiedenartige Aspekte wie Kürze, Weisheit oder Paradox, „The aphorism today“ schließt das Buch ab, vor Glossar, Bibliographie und Index.

Schon der historische Überblick birgt manche Überraschung, die sich allenfalls durch Grants übermäßig weites Begriffsverständnis erklären lässt. So werden im Abschnitt über The Medieval Anthology Chaucers „Canterbury Tales” abgehandelt, in The Age of whit, das für ihn von 1650-1750 reicht, nur zwei Autoren genannt: La Rochefoucauld und Pascal (La Bruyere, Vauvenargues und Chamfort nimmt er nicht zur Kenntnis), in The Romantic Fragment (1780-1850) erscheint als das berühmteste britische romantische Fragment Coleridges Gedicht „Kubla Khan”, während Schlegel und Novalis nur gestreift werden. In The Making of America lernt der verwunderte Leser den Dramatiker Royall Tyler (1757-1826) und Philip Stanhope, Earl of Chesterfield (1694-1773) mit den Briefen an seinen Sohn kennen. Ähnlich nach einem Abschnitt zu Friedrich Nietzsche das Unterkapitel Modernism, in dem Eliots berühmtes Gedicht „The Waste Land” und Wallace Stevens‘ Gedicht „Dreizehn Möglichkeiten, eine Amsel zu betrachten“ mit seinen haiku-artigen Strophen die Referenzwerke sind. Im letzten Abschnitt Postmodern Decentring sieht Grant die Transformation des Aphorismus verwirklicht: „the aphorism has become part of an important new critical idiom for thinking not just about writing and literature, but also about the nature of a decentred, fragmented world”. Exemplarisch behandelt er hier Margaret Atwoods Gedicht „Progressive insanities of a pioneer” und die Fraktal-Poesie Alice Fultons (geb. 1952).

Zu den systematisch orientierten Kapiteln nur einige exemplarische Beobachtungen, die alle in dieselbe Richtung führen. Der Leser erfährt (neben dem Vergleich Bacon – Joubert) etwas über Freud („Brevity“), über Buddha und Zhuangzi („Wisdom”), über Zitat und Definition, Bierce und Misogynie am Beispiel von Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich allein” („Authority”), über Matsuo Basho und das Haiku („ein exemplarischer Aphorismus) (in „Thoughts and impressions”), im Kapitel „Enigma and paradox” etwas über Borges, Eco, Lewis Carroll und das zenbuddhistische Koan (die Sammlung „Mumonkan”). Nicht nur große außer-englische Gattungsautoren wie Goethe, Lec, Renard, Kafka, Tuwim oder Gómez Dávila, auch wichtige englische Autoren wie Shaw, Swift oder Butler, für Kenner der wohl bedeutendste englische Aphoristiker des späten 19. Jahrhunderts: sie werden dagegen mit keinem Wort gewürdigt; Hazlitt, Canetti und Valéry werden gerade einmal erwähnt.

Man erinnert sich wehmütig an die ältere deutsche Einführung Harald Frickes („Aphorismus“, 1984): in kluger Beschränkung auf die deutsche Sprache, theoretisch innovativ, solide und fokussiert. Grant bietet durch seine weit ausgreifenden Referate breite Information, mag hier und da auch anregend sein, eine solide Einführung in die Gattung kann er aber mit diesem Überblick über Theorie und Erscheinungsformen der literarischen Kürze nicht bieten.

 

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