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Friedemann Spicker zu:
Arndt-Michael Meyer: Die Macht der Kürze. Das 1×1 der Realität. Norderstedt: BoD 2004.
Ein anmaßendes Buch. Es ist nach eigenem Bekunden „Meilenstein“ und „Revolution“ (6). Meyer reklamiert die „Realität“ in diesem kleinen „1×1“ ganz allein für sich und beruft sich dabei auf die Funktionsweise des Gehirns, die er allein mit seiner GUToP (Great Unified Theory of Philosophy) versteht. „Die einzige Absicht des Buches ist der Erklärung der GUToP.“ (7)
Und was hat dieses Sektierertum mit dem Aphorismus und mit DAphA zu tun? Das Buch, im Übrigen voller Fehler in Interpunktion, Grammatik usf., „interpretiert“ „circa 300 Zitate von bekannten Denkern“ in Kapiteln von „Natur“ bis „Humor“. Und dieses „Interpretieren“ geht zum Beispiel so:
„Wer sich ständig von Vernunft leiten lässt, ist nicht vernünftig.“
Charles Tschopp, schweizerischer Aphoristiker, 1899-1982
Wahrheitsgehalt: 0%
Fehler: Das Zitat fordert zum Nachdenken über unser Handeln nach. Allerdings ist das Zitat in sich falsch.
Man sollte seinen Gefühlen nachgehen. Allerdings nur wenn das dann nicht zu einer Situation führt welche ins Unglück führt. […] (21)
Oder so:
„Die Schönheit brauchen wir Frauen, damit die Männer uns lieben, die Dummheit, damit wir die Männer lieben.“
Coco Chanel, französische Modeschöpferin, 1883-1971
Wahrheitsgehalt: 95%
Fehler: keiner [es folgt ein Kommentar] (22)
Der Ansatz, sich Zitat und Aphorismus kritisch zu nähern, ist nicht zu kritisieren. Die Umsetzung: mathematisch-oberlehrerhaft nach fein differenzierten, exakten „Wahrheits“-Prozenten und „Fehler“haftigkeit ist indiskutabel. Wie ergeht es beispielsweise Lichtenberg unter solchem Regiment?
„Es gibt wirklich sehr viele Menschen, die bloß lesen, damit sie nicht zu denken brauchen.“
Wahrheitsgehalt: 95%
Fehler: keiner.
Perfekt. [es folgt ein Kommentar] (94)
Andererseits:
„Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt.“
Wahrheitsgehalt: 50%
Fehler: Die weitaus größere Gefahr für die Wahrheit geht vom emotionalen Wunsch nach einer bestimmten „Wahrheit“ aus. Hierbei ist es aber praktisch unbedeutend, ob diese Unwahrheit eine große Lüge ist, oder nur schlecht recherchiert ist. […] (115)
Stichproben bei den Großen:
Kraus: drei Aphorismen, Wahrheitsgehalt: 0%, 95%, 99%. Natürlich interessiert der 0%-Totalversager besonders: „Das Chaos sei willkommen, denn die Ordnung hat versagt.“ Kraus; Meyer: „Fehler: Alles ist in perfekter Harmonie. […]“ (120)
Ebner-Eschenbach: neun Aphorismen, Wahrheitsgehalt: zweimal 50%, sonst 95-99%!
Nietzsche: sechs Aphorismen, Wahrheitsgehalt: dreimal 95%, des Weiteren 80%, 75%, 10%.
Goethe: fünf Aphorismen, Wahrheitsgehalt: 99%, 90%, 70% (zweimal), 50%. Dass den Autor Gattungsfragen überhaupt nicht interessieren, versteht sich. Also muss sich der ungeneigte Leser auch darauf gefasst machen, ein solches Zitat verarbeitet zu sehen: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst – nicht mir!“ (96)
Das Verfahren ist, wie die Beipiele zeigen, mehr als anfechtbar. Trotzdem ist das Buch nicht nur oft ärgerlich, zuweilen dabei nicht ohne Unterhaltungswert, es kann im Einzelnen in der Auseinandersetzung mit den Kommentaren auch anregend sein (es gibt ein Autorenverzeichnis). – Zum Schluss zitiert der Autor drei eigene Zitate: Wahrheitsgehalt 95%, Fehler: keiner“ (164f.). Wer hätte das gedacht?
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