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Iwan (Johann Christian) Kroneberg: Aphoristik
Vorgestellt von Felix Philipp Ingold
Geboren wurde Iwan Kroneberg (d. i. Johann Christian Kroneberg, 1788-1838) als Sohn eines russlanddeutschen lutheranischen Pfarrers in Moskau, erhielt aber seine Schul- und Hochschulausbildung in Deutschland. Nach Studien in Halle und Jena erwarb er als 19-Jähriger sein philosophisches Doktorat, assimilierte das zeitgenössische deutsche Denken und ließ sich namentlich von Friedrich W. J. Schelling beeinflussen, für dessen russische Rezeption er sich nach der Rückkehr in seine Wahlheimat nachhaltig einsetzte. Für ein paar Jahre stand er dem Jenaer Kreis nahe und geriet für immer in den Bann der dortigen Dichter und Denker, für deren Popularisierung er sich in der Folge ebenso selbstlos wie beharrlich einsetzte. Wieder in Moskau, war Kroneberg vorübergehend für die Steuerbehörde, dann als Dozent an der städtischen Handelshochschule tätig (1814-1818). Ab 1819 lebte und wirkte er in Charkow, etablierte sich dort für viele Jahrzehnte als Altertumsforscher (Geschichte, Mythologie, Dichtung), war Universitätsprofessor und -rektor (1821-1838), unterhielt nebenher, anknüpfend an seine Erfahrungen und Erinnerungen aus Jena, einen Kreis von Kollegen und zugewandten Literaten, der lange Zeit das intellektuelle Leben der Stadt dominierte. Besondere Verdienste erwarb er sich als Initiator und Förderer der Rezeption William Shakespeares sowie als Vermittler der deutschen Romantik (vorab der Ästhetik, mit Schelling und Novalis) in Russland. In vier Lieferungen hat Iwan Kroneberg außerdem philosophische «Aphorismen» (1825, 1830/1831, 1835) vorgelegt, die nach seinem allzu frühen Tod rasch und für lange Zeit in Vergessenheit gerieten. Erst seit den 1970er Jahren wird sein ebenso vielfältiges wie umfangreiches Werk wissenschaftlich aufgearbeitet und sein Platz in der russischen Geistesgeschichte adäquat definiert.
Iwan Kroneberg
Aphorismen
Das Kunstwerk ist nichts anderes als eine Körper gewordene Idee.
Du sollst die Natur nachahmen! – Könnte die Natur denn außerhalb des Künstlers sein? Die Natur ist im Künstler.
Die Schaffenskraft des Dichters wie des Künstlers besteht in der Bewältigung des Unendlichen und in der Bewältigung des Endlichen; aus Ersterem entspringen die Ideen; Letzteres ist die Phantasie, jene Kraft, welche unendliche Ideen in ein individuelles Bild kleidet.
Einbildungskraft und Phantasie verhalten sich wie Prosa und Poesie; die Einbildungskraft gibt Teile wieder, die Phantasie schafft ein Ganzes und bringt im Leben ihre kosmische Kraft zur Geltung.
Talent ist bloss ein Schatten von Genialität. Talent ahmt nach und vergeht; Genie ist unnachahmlich und unsterblich. Talente können einander – als Stadien – zerstören und ersetzen, Genies – als Gattung – tun dies nie. Der Reichtum eines Talents besteht in einer geprägten Münze, die man nachmachen oder sich aneignen kann und die durch ihren Gebrauch außer Gebrauch kommt und durch eine andere ersetzt wird. Der Reichtum des Genies besteht in tiefsten, unerschöpflichen Quellgründen, die man in keiner Weise nachmachen oder sich aneignen kann und durch die ganze Epochen und Völker zu Reichtum kommen.
Das Schöne ist die tatsächliche Einheit des Idealen und des Realen, die unmittelbare Kundgabe der Seele im Körper.
Schönes gibt es in der Natur nicht, das Schöne gibt es nur in den Schöpfungen der Kunst. Denn die Schöpfungen der Natur bringen nicht eine einzige Idee vollkommen zum Ausdruck. Die Idee, welche die Kunst in unmittelbarer Anschauung darbietet, findet sich in der Natur allein im Übergang vom Leben durch einen von uns nicht erfassbaren Augenblick vollkommenen Seins zum Tod.
Das Schöne in der Sphäre der Kunst ist das, was in der Natur das Licht ist.
Das mathematisch Erhabene ist das, was, indem es unmittelbar und gleichsam wider Willen die Idee der Unendlichkeit wachruft, die Phantasie in Verzückung bringt. Das dynamische Erhabene bietet sich akustisch dar und erweist im mindesten Zeichen unendliche Kraft. Dort ist Extension vonnöten sowie der mit dem Blick abgeschrittene Weg, hier – Extension und Intension.
Als künstlerische Form begreift man gewöhnlich ein willkürliches Bild, das einer weichen Masse aufgedrückt wird und das zurückbleibt, wenn die Masse sich festigt. Das ist eine mechanische Form. Die organische Form, die allein den Schöpfungen der Kunst innewohnt, ergibt sich aus der Wirkung einer inneren Kraft und vollendet sich in der vollen Ausfaltung ihres Inhalts.
Jedwedes Werk der Kunst geht aus einer Idee hervor, vergleichbar einem majestätischen Baum, der aus einem Samen erwächst.
Bezüglich dramatischer Werke wird zeitliche Einheit gefordert. Um zu erkennen, worin die Einheit der Zeit besteht, muss man vorab wissen, in welcher Zeit das Bühnenstück verläuft, ob in der astronomischen oder in einer idealen.
Bezüglich dramatischer Werke wird räumliche Einheit gefordert, und dies mit Recht. Einstmals hatte die Phantasie Flügel, mit denen sie sich jäh aufschwang, egal wohin. Nunmehr, da sie sich von allen schicksalhaften Flügelschlägen befreit hat, bewegt sie sich in einer neumodischen Pariser Droschke. Wie also könnte sie den Dichter einholen, der aus Zarengemächern jäh auf das Schlachtfeld wechselt?
Gefordert wird auch die Einheit der Handlung. Doch was ist das – die Handlung? Siehst du diesen majestätischen Strom, der in raschem Fluss sämtliche Hindernisse überwindet und sich schließlich in den stillen Ozean ergiesst? Mag sein, dass er vielen verschiedenen Quellen entstammt, und zweifellos münden andere Ströme in ihn, die aus gegensätzlichen Weltgegenden kommen. Warum sollte denn nicht auch der Bühnendichter verschiedene Einzelströme menschlicher Leidenschaften und Anstrengungen zu ihrer rauschenden Vereinigung führen, wenn es ihm gelingt, den Zuschauer in eine solche Höhe zu versetzen, dass er den egsamten Strömungsverlauf überschauen kann? Und falls der Strom durch die Überfülle andrängender Gewässer erneut sich in mehrere Seitenflüsse zerteilt und in mehr als einer Mündung ins Meer gelangt, so bleibt es doch ein und derselbe Fluss.
Die Kritik bildet die Mitte zwischen Geschichte und Theorie der Künste. Doch Kritik ist nicht die Kunst, an irgendeinem Werk Fehler namhaft zu machen. Kritik beharrt nicht auf dem Buchstaben, sondern betrachtet im Buchstaben das Schöne. Der Kritiker benötigt universale Geistigkeit.
Die deutsche Kritik versteht die französische Dichtung; die französische Kritik versteht die deutsche Dichtung nicht. Weshalb? Deshalb, weil alle französischen Kritiker Narzissten sind.
In den französischen Tragödien gibt es keinerlei Handlung, es gibt nur Gespräch und Bericht, so dass man als Theatergast unentwegt auf irgendeine Handlung wartet; senkt sich schliesslich zum fünften Mal der Vorhang, so geht man nach Hause und hat tatsächlich viel gehört, jedoch nichts gesehen.
Ein Kunstkenner ist nur der zu nennen, welcher das Werk im Geist des Künstlers als ein organisches Ganzes betrachtet; beim Dilettanten verwandelt sich solche Klarheit in ein dunkles Gefühl.
Eine auf Geschmack begründete Ästhetik ist wie der modebedingte Schnitt eines Kleides; die Mode hat sich gewandelt, also taugt das Kleid nicht mehr, wandelt sich der Geschmack, dann taugt die Ästhetik nicht mehr.
Ziel der Ästhetik ist es nicht, das Genie zu lenken, sondern es zu begreifen in seinem Tun und in seinen Werken sowie das Kunstgefühl zu entwickeln und anzuleiten.
Was der Befriedigung irgendeines Bedürfnisses dient, gehört nicht dem Bereich der schönen Kunst an.
Q:
Iwan Kroneberg, «Aphorismen» (Aforizmy), in: I. K., Amalthea oder Gesammelte Werke und Übersetzungen mit Bezug auf die schönen Künste und die Dichtung des klassischen Alterttums (Amalteja ili Sobranie sočinenij i perevodov, otnosjaščichsja k izjaščnym iskusstvam i drevnej klassičeskoj slovesnosti, I, Char’kov 1825); einige dieser «Aphorismen» hat Kroneberg später auszugsweise in separaten «Broschüren» nachgedruckt (Brošjurki, II, 1830; VII, 1831) und in seiner Zeitschrift «Minerva» (I, 1835), hier ergänzt durch zusätzliche Texte, die er als «Auszüge» (Otryvki) bezeichnete.
Eine Monographie unter dem Arbeitstitel „Russische Aphoristik: Geschichte, Theorie, Anthologie“ erscheint in Kürze.
Auszüge
Das organische Schöpfertum in der Natur ist das sich entfaltende Denken der schöpferischen Natur; das künstlerische Schöpfertum ist die verfestigte Idee der schöpferischen Kraft der Dichtung. In den Schöpfungen der Natur sind der Beginn, die allmähliche Entwicklung und das Ende sowie deren Wesensfülle der für uns unmerkliche Kulminationsmoment ihres Lebens; in den Schöpfungen der Kunst gibt es weder Anfang noch allmähliche Entwicklung noch ein Ende, sondern einzig die volle Wesensfülle in ihrem ganzen Glanz. Die Schöpfung der Kunst nimmt ihren Ausgang vom Geist, so wie Minerva in voller Rüstung als Erwachsene dem Haupt des Zeus entsprang.
Das Dichtwerk ist die Frucht moralischer Freiheit und eines höheren Instinkts, den man himmlisch nennen könnte, denn wem er nicht gegeben ist, der verfertigt lediglich Automaten, denen weder eine Seele noch Leben innewohnt. Er, dieser Instinkt, diese unergründliche Umtriebigkeit und Bewegtheit der Seele, er ist es, der die wundersamen Werke der Dichtung hervorbringt und ihnen ewiges Leben einhaucht.
Begeisterung ist der schöpferische Moment. Im Moment des Schaffens befindet sich der Dichter, als wäre er magnetisiert, in einem hellseherischen Zustand.
Der Genius ist nicht bloss ein Abbild, er ist Teil des Schöpfergeistes der Natur, und indem er ihren Gesetzen entsprechend wirkt, gewinnt er in der Kunst seine Autonomie.
In der Volksdichtung widerspiegelt sich der Charakter des Volkes; in ihr konzentriert sich sein gesamtes Leben, das innere wie das äußere; das Wundersame, das Geheimnisvolle, das Unbegreifliche hat Anteil daran.
Q:
Iwan Kroneberg, «Auszüge» (Otryvki), in der Zeitschrift «Minerva» (I, Charkow 1835); hier in Auswahl übersetzt nach dem Sammelwerk «Russische ästhetische Traktate im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts» (Russkie èstetičeskie traktaty pervoj treti XIXgo veka, II, Moskva 1974). – Kroneberg hat die «Auszüge», ihrer expliziten Begriffsbedeutung entsprechend, diversen Textvorlagen entnommen, namentlich den fragmentarischen und aphoristischen Schriften zeitgenössischer deutscher Autoren. Es handelt sich dabei mehrheitlich um freie Nachschriften oderAdaptationen, bisweilen auch um fast wörtliche Übersetzungen, deren Quellen jedoch durchwegs ungenannt bleiben. Einzelne dieser Kurztexte können auch als eigenständige Notate gelesen werden, die wohl als Entwürfe zu geplanten, jedoch nicht ausgeführten Abhandlungen gedacht waren. «Fragmente» wäre die besser passende Bezeichnung dafür.
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