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Gilbert Keith Chesterton (1874 – 1936): Gottes Raufbold

Aphorismen
Mit einer Vorbemerkung von Rolf Friedrich Schuett

 

Chesterton bei der Arbeit

Chesterton bei der Arbeit, Bildquelle: Wikipedia

Ewige Wahrheiten konnte er formulieren, als hätte keiner sie je gehört, und Originellstes klang bei ihm, als wäre es fast so alt wie die Welt. Der rote Denker Ernst Bloch nannte ihn „einen der vielleicht gescheitesten Menschen, die je gelebt haben“ und Hannah Arendt „einen der klügsten Männer Europas“. Wenn der anglophile Lichtenberg in eine Philosophiegeschichte gehört, dann erst recht ein Gilbert Keith Chesterton (1874-1936), wohl „der witzigste europäische Schriftsteller seit Swift“, der trink- und lebensfrohe „Raufbold Gottes“ (Franz Blei). Der Sohn eines vermögenden Londoner Kaufmanns entdeckte in den Arbeitern seines Vaters die einzigen Menschen, die diesen Namen verdienen, und verteidigte sie mit seinem ,Distributionismus‘ gegen ihre sozialistischen Verteidiger George Bernard Shaw und H. G. Wells. Er verteidigte das gemeine Gottesvolk gegen die sozialistische Aristokratie und den katholischen Universalismus und Individualismus gegen die feudalen Eliten des zivilisatorischen Spezialistentums.

Um 1900 herum fing der ehemalige Kunstschüler an mit einer „Verteidigung“ von Kriminalromanen und Schundromanen, von Volkssprache und Possen, von Gelübden und Gerippen, Hässlichkeit und Unsinn, Kitsch und — Kindern. Er war selbst der „Ritter mit dem Goldenen Schlüssel“, den er seit seiner Kindheit über die Holzbrücke eines Puppentheaters hatte reiten sehen auf der „Jagd nach dem Drachen“ des freudlosen Fatalismus und puritanischen Materialismus. Seine Feder blieb dieser goldene Schlüssel zu den Schatzkammern von Frau Welt und Mutter Erde. — Er bewies, was Nietzsche von Kant zu Unrecht schrieb, dass das gemeine Volk immer Recht hatte gegen seine Intellektuellen, bewies es aber auf eine Weise, die nur von Intellektuellen verstanden wird. Er nahm die Partei der Volksherrschaft gegen die Herrschaft der Herren und das Volk in Schutz gegen sich selbst, also gegen das, wozu es sich selbst machen muss, um nur zu überleben.

 

Gilbert K. Chesterton, 1914

Gilbert K. Chesterton, 1914, Bildquelle: Wikipedia

Chesterton, der zusammen mit seinem Freund Hilaire Belloc den „Chesterbelloc“ bildete, hielt nicht erst den Manchesterkapitalismus für undemokratisch, sondern schon den Industrialismus selbst, vor allem in seiner sozialistischen Abart. Seine „Beef- and-Beer-Philosophy“ war niemals die Ordinary Language Philosophy à la Wittgenstein (die selbst nur eine Kunstsprache über Umgangssprachen ist). „The Everlasting Man“ (1929) war ihm „The Common Man“, dessen Seelenheil (und Leibeswohl) er gegen alle psychischen Wunderheiler kampflustig immunisieren wollte. Er philosophierte niemals über Dialektik, dachte aber dialektisch wie wenige. Ungewöhnlichste Dinge widerlegte er auf ordinärste Weise und verteidigte die Wonnen der Gewöhnlichkeit auf ungewöhnlichste Art. Nichts war ihm zu paradox, um Selbstverständlichkeiten zu sagen, und nichts war ihm zu alt, um es als letzten Schrei zu verkaufen. Wäre ich ein Christ, wäre ich es am liebsten auf seine Weise. Kunstvoll dialektischer ist der Kommunismus des angelsächsischen common sense nie gepredigt worden, und Chesterton ist eine einzige Erinnerung daran, dass der deutsche ,Geist‘ ein englischer ,wit‘ ist. Umgekehrt ist höchste Dialektik nie überzeugender als von diesem einfachen Menschen vorgeführt worden, einem Journalisten der Metaphysik. Sophisten hielten ihn, der philosophischer dachte als viele Philosophen, für einen ganz abgefeimt frivolen Sophisten. Heinz Rühmann machte ,Pater Brown‘ im Kino ebenso populär wie harmlos. Welcher Verleger macht Chestertons 4000 Essays wieder populär und zugänglich?

 

 

 

Der wahre Fortschritt besteht darin, nach der Stelle auszuschauen, wo man stehen bleiben kann.

Der Mensch, der einen anderen tötet, tötet nur einen, aber der Mensch, der sich selbst tötet, tötet alle Menschen, … er löscht das ganze Weltall aus.

Der Misanthrop behauptet, die Menschheit wegen ihrer Schwächen zu verachten. Die Wahrheit ist, dass er sie wegen ihrer Stärke hasst.

Gut sein ist ein weit kühneres Abenteuer als eine Weltumsegelung.

Jeder Aufrichtige wird zugeben, dass die einzige Art von Stolz, die ganz verdammenswert ist, diejenige ist, welche Grund hat, auf etwas stolz zu sein.

Der wahre Glanz der Jugend liegt darin, dass sie den ganzen Weltraum für sich hat, um die Beine auszustrecken.

Es ist das Schlimme bei dem ewigen Versuch, die körperliche Gesundheit zu bewahren, dass sich dieser Versuch schwer durchführen lässt, ohne die geistige Gesundheit zu zerstören.

Wir sprechen davon, jemandes Herz zu ‚rühren‘, doch seinen Kopf kann man nur treffen.

Wir machen uns Freunde. Wir machen uns Feinde. Aber Gott macht uns den Nachbarn nebenan.

Die Leute, die am stärksten an sich selbst glauben, stecken alle in Narrenhäusern.

Über welche anderen Dinge kann man denn Scherze machen als über ernste Dinge?

Das Glück der Ehe kommt nach den Enttäuschungen der Flitterwochen.

Etwas, das wert ist, überhaupt getan zu werden, ist auch wert, schlecht getan zu werden.

Der Dichter möchte nur, dass sein Kopf bis in den Himmel hineinragt. Der Logiker aber möchte diesen Himmel in seinen Kopf hineinzwängen.

Wenn jemand allzu klar und überzeugend beweist, dass ein Tiger eine optische Täuschung ist – … wird der Tiger selbst in die Diskussion eingreifen …

Verrückt ist nicht immer der, welcher den Verstand verloren hat, sondern der, welcher alles verloren hat außer dem Verstand.

Nietzsche? Krüppel sind oft hart gegen Krüppel.

Ideen sind gefährlich, aber der Mann, dem sie am allerwenigsten gefährlich sind, das ist der Mann mit Ideen … Dem Mann ohne Ideen wird die erste Idee so zu Kopf steigen wie Wein einem Alkoholgegner.

Nur die Religion . . . kann den Menschen retten vor der vernichtenden und erniedrigenden Sklaverei, ein Kind seiner Zeit zu sein.

Man spricht von Dogmen, als wären sie Zeichen der Langsamkeit und Beharrlichkeit menschlichen Geistes. Tatsächlich sind sie Merkmale geistiger Schnelligkeit und leuchtender Ungeduld. Ein Mensch wird seine Meinung mystisch ausdrücken, wenn er keine Zeit verlieren kann, sie rational auszudrücken.

Der Mensch muss über die meisten Dinge orthodox denken, oder er wird niemals auch nur genug Zeit finden, seine eigene Ketzerei zu predigen.

Es gibt etwas, was unendlich dümmer und unpraktischer ist, als einen Philosophen wegen seiner Ansichten ins Feuer zu werfen. Das ist die Angewohnheit zu sagen, Ansichten seien belanglos.

Wie kann es eine große Laufbahn sein, andrer Leute Kinder die Dreisatzrechnung beizubringen, und eine kleine Laufbahn, die eigenen Kinder das Universum zu lehren? Wie kann es viel sein, allen das gleiche zu sein, und wenig, einem alles zu sein?

Als ob Liebe je frei sein könnte! Es ist ja die Natur der Liebe, sich selbst zu binden.

Es gibt nur drei Dinge, die Frauen nicht verstehen können: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Wenn in Amerika Ehen wegen Unvereinbarkeit der Charaktere geschieden werden, dann verstehe ich nicht, wieso nicht alle Ehen geschieden werden.

Moderne Weise bieten dem Liebenden mit üblem Grinsen … jede Freiheit mit Ausnahme der Freiheit, seine Freiheit verkaufen zu dürfen : die einzige, die er brauchte.

Sie bestehen darauf, von Geburtenkontrolle zu sprechen, wenn sie weniger Nachkommenschaft und keine Kontrolle wünschen.

Das ist die einzige ewige Erziehung : von der Wahrheit einer Sache so überzeugt sein, dass man wagt, sie einem Kinde zu sagen.

Die Leute trauen dem gemeinen Mann, weil sie sich selbst trauen. Aber die Leute trauen dem großen Mann, weil sie sich selber nicht trauen.

Wenn die Menschen müde sind, fallen sie in Anarchie; sind sie aber froh und kraftvoll, so schaffen sie sich Gewohnheiten, Konventionen – sie machen dann unweigerlich Gesetze und Regeln.

Niemand kann Revolution machen, um eine Demokratie zu errichten. Die Demokratie muss da sein, damit eine Revolution entstehen kann.

Es ist ein hinreichender Beweis dafür, dass wir nicht wesentlich demokratisch sind : dass wir uns immer fragen, was wir mit den Armen anfangen werden. Wären wir Demokraten, würden wir fragen, was die Armen mit uns anfangen werden.

Die Absicht des Bildhauers ist, uns zu überzeugen, dass er ein Bildhauer ist. Die Absicht des Redners ist, uns zu überzeugen, dass er kein Redner ist.

Je reicher einer ist, desto leichter kann er einen Landstreicher machen … aber je ärmer ein Mann ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er seine ganze Vergangenheit unter Beweis stellen muss, um ein Bett für die Nacht zu bekommen.

Hoffnungslos zu sein war stets ein Vorrecht der Gebildeten.

Der Polizist ist die eigentlich originelle und poetische Figur, während die Einbrecher und Straßenräuber bloß friedliche, alte, komische Konservative sind, glücklich in den uralten Anstandsbegriffen der Affen und Wölfe.

Die Armen haben sich manchmal dagegen gewehrt, schlecht regiert zu werden. Die Reichen haben sich immer dagegen gewehrt, überhaupt regiert zu werden.

Ein Mann ist zornig über eine Verleumdung, weil sie falsch ist, aber über eine Satire, weil sie wahr ist.

In einer politischen Abhandlung wirft der moderne Revolutionär den Menschen vor, dass sie die Moral mit Füßen treten; in einem Exkurs über die Ethik wird er die Moral angreifen, weil sie die Menschen mit Füßen tritt.

Der Glaube des Tyrannen an sich selber ist nur Enttäuschung an der Menschheit.

Der Pragmatismus dreht sich um die Bedürfnisse des Menschen, und eines der vorrangigsten Bedürfnisse des Menschen besteht darin, kein bloßer Pragmatist zu sein.

 

Ein Pfeil vom Himmel. Aphorismen und Paradoxa. 1949

 

 

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