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Felix Philipp Ingold
Das Sterben und der Tod in der russischen Aphoristik

Iwan Iwanowitsch Schischkin: Altes Totholz, Waldfriedhof (1893). Bildquelle: Wikipedia
Im Unterschied zur Mannigfaltigkeit des Sterbens (als Prozess) ist der Tod (als Zustand) eindeutig und vielsagend zugleich, und im Unterschied zum Tod, der stets definitiv gegeben und unerfahrbar ist, wird das Sterben in jedem Fall, ob jäh oder allmählich, erlebt. Dennoch wird der Tod, obwohl und weil man über ihn nichts wissen kann, weit vielfältiger, auch widersprüchlicher thematisiert als das Sterben, das ja noch immer dem Leben zugehört und worüber Unterschiedliches zu berichten ist.
Beides, das Sterben wie der Tod, hat in der internationalen Aphoristik zu allen Zeiten hochrangige Bedeutung, bleibt allerdings begrifflich und phänomenal oft undifferenziert. Naturgemäss wird der Tod (und damit das Nachleben), von dem man nichts wissen kann, auch im Aphorismus zum Gegenstand der Spekulation, der Hoffnung oder des Entsetzens, während das erfahrbare, vielleicht gar erfahrene Sterben sich individueller (subjektiver) Beobachtung und Besprechung darbietet.
In diesem allgemeinmenschlichen Themen- und Problembereich weist die russische aphoristische Rede insofern eine markante Besonderheit auf, als sie den Tod deutlich vor dem Sterben privilegiert. Das Sterben wird hier mit einer gewissen Selbstverständlichkeit der Normalität des Lebens zugeordnet, und der Tod wird vorab als Verlust dieser doch zumeist bedrängenden, entbehrungsreichen, schmerzlichen Normalität beklagt und gerade nicht als Erlösung davon begriffen.
«Über den Tod als etwas ganz Gewöhnliches, Natürliches nachzudenken, macht die Angst vor ihm zunichte», meint dazu ebenso nüchtern wie souverän (dabei durchaus hintergründig) Michail Sostschenko, ein Verfemter des stalinistischen Terrorregimes. Bestätigung findet er bei seinem Schriftstellerkollegen Jurij Nagibin, der einst mit forciertem Überschwang notierte: «Unser [russisches] Leben hat einen gewaltigen Vorzug vor dem Leben eines westlichen Menschen – es kommt fast ohne Todesangst aus.» Und Wassilij Schukschin, einer der populärsten Autoren der sowjetischen Spätzeit, sekundiert ebenso selbstgewiss: «Den Tod fürchte ich nicht, denn das Leben gehört ja mir!»
Solch befremdliche Feststellungen finden ihre Bestätigung in der russischen Wirklichkeit ebenso wie in der klassischen russischen Literatur – die Bereitschaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, es hinzugeben, aber auch fremdes Leben geringzuschätzen oder gar zu eliminieren scheint hier gleichermaßen ausgeprägt zu sein. Fjodor Dostojewskij und Lew Tolstoj, verlässliche Repräsentanten (wenn nicht gar Propagandisten) russischer Mentalität, haben dies mit Bezug auf Krieg, Krankheit, Martyrium und Verbrechen in ihren Werken exemplarisch aufgezeigt.
Die nachfolgenden, hier erstmals in deutscher Fassung und chronologischer Abfolge präsentierten «Aphorismen» aus dem 18. bis 21. Jahrhundert wurden (in Auswahl) verschiedenen russischen Websites entnommen; siehe u. a.
http://oduvanchik.info/view_t.php?id=46&page_num=19
https://ru.citaty.net/tsitaty-o-smerti/
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Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin: Die Apotheose des Kriegs (1871). Bildquelle: Wikipedia
«Zwei Tode gibt es nicht, einer ist nicht zu vermeiden.» (Aleksandr Suworow)
«Den Tod fürchten wir auf dem Schlachtfeld nicht, doch wir fürchten uns, ein Wort zugunsten der Gerechtigkeit zu sagen.» (Kondratij Rylejew)
«Erst nachträglich nahm man mit Bedauern zur Kenntnis, dass der Verstorbene tatsächlich eine Seele besass, obwohl er sie aus Bescheidenheit nie offenbart hatte.» (Nikolaj Gogol)
«Die Liebe, so dachte ich, ist stärker als der Tod und als die Todesangst. Einzig durch sie, einzig durch die Liebe hat das Leben Halt und bleibt in Bewegung.» (Iwan Turgenew)
«Althergebracht der Tod und doch für jedermann neu.» (Iwan Turgenew)
«Der Tod wurde am Ende des Lebens postiert, damit man sich bequemer darauf vorbereiten kann.» (Kosma Prutkow)
«Das Klügste im Leben ist eben doch der Tod, denn er allein korrigiert sämtliche Fehler und Dummheiten des Lebens.» (Wassilij Kljutschewskij)
«Hat der Mensch erst einmal zu denken gelernt, so denkt er – worüber er auch nachdenkt – stets nur an seinen Tod.» (Lew Tolstoj)
«Der Wert des Lebens ist umgekehrt proportional zum Quadrat seines Abstands zum Tod.» (Lew Tolstoj)
«Wer mit Furcht an den Tod denkt, gleicht jenem Reisenden, der nach der Überquerung des Ozeans mit Furcht an die Rückkehr nach Hause denkt.» (Lew Tolstoj)
«Bin gestorben – bin aufgewacht. Ja, der Tod ist ein Erwachen!» (Lew Tolstoj)
«Leben und Tod sind für mich kein Übel mehr, statt Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung verspüre ich nun eine Freude und ein Glück, das nicht einmal der Tod mir noch nehmen kann.» (Lew Tolstoj)
«Ein Wort kann töten und schlimmer als der Tod ein Übel sein.» (Lew Tolstoj)
«… Gleichgültigkeit – das ist eine Lähmung der Seele, ist ein vorzeitiger Tod.» (Anton Tschechow)
«Ich will im Frühling sterben, | Zur Wiederkehr des heitern Monats Mai | … | Ich werde meinen Tod lobpreisen | Und ihn herrlich heißen.» (Mirra Lochwizkaja)
«Erbarmungslos ist mein Weg, | Er führt mich hin zum Tod. | Doch ich liebe mich wie einen Gott, | Die Liebe wird mein Leben retten.» (Sinaida Gippius)
«Ein Moment hat bisweilen mehr Inhalt als ein Jahr, und wenn dereinst der Tod kommt, hat sein Moment mehr Inhalt als das ganze Leben.» (Wassilij Rosanow)
«Niemals bricht das Morgen an; das ewige Heute dauert fort. Nicht die Zukunft wird durch den Tod eingestellt. Nicht morgen tritt der Tod ein, sondern irgendwann heute.» (Grigorij Landau)
«Leid und Kummer sind der Meißel, | Mit dem der Tod den Menschen formt.» (Maksimilian Woloschin)
«Rechtens ist der Tod, derweil das Leben brabbelnd lügt und lügt …» (Nikolaj Gumiljow)
«Man braucht den Tod nicht zu fürchten, und auch nicht das Wort dafür. Es gibt im Leben so vieles, das schlimmer ist als der Tod. All der Dreck, die ganze Niedertracht erwächst aus der Angst vor dem Tod.» (Anna Achmatowa)
«Das Leben hat den Tod auf mir unbekannte Weise besiegt.» (Daniil Charms)
«Ich sehe den Kampf von Leben und Tod. Der Kampf verläuft bei gleichen Chancen nicht naturgemäß, weil naturgemäß der Tod obsiegt, derweil das zum Tod verurteilte Leben vergeblich mit dem Tod ringt und bis zuletzt seine nichtige Hoffnung nicht verliert.» (Daniil Charms)
«Gott ist ein verschiedener Mensch, ein Toter.» (Andrej Platonow)
«Die Maschine duftet nach Tod.» (Andrej Platonow)
«Über den Tod als etwas ganz Gewöhnliches, Natürliches nachzudenken, macht die Angst vor ihm zunichte.» (Michail Sostschenko)
«Ja, der Mensch ist sterblich, doch das ist halb so schlimm; schlimmer ist, dass er bisweilen ganz plötzlich sterblich wird – da liegt der Hase im Pfeffer!» (Michail Bulgakow)
«Für mich ist Christus die Vollkommenheit. Aber ich glaube an ihn nicht so wie die andern. Die glauben nämlich aus Furcht vor dem Tod an ihn.» (Sergej Jessenin)
«Den Tod fürchte ich nicht. Ich fürchte den Schmerz, fürchte körperliche Leiden und manchmal sogar meinen Zahnarzt. Bin ein ganz normales Tier.» (Arkadij Rajkin)
«Wenn der Tod keinen Sinn hat, so heißt das doch, dass auch das Leben sinnlos war.» (Michail Scholochow)
«Den Tod fürchten – das heißt nichts anderes als sich eine Weisheit zuzuschreiben, über die man nicht verfügt, aber so zu tun, als hätte man sie …» (Andrej Platonow)
«Die Armee ist lebendig dadurch, dass sie nicht an den Tod glaubt, der Tod ist allein dem Feind zugedacht, doch für uns gibt es den Tod nicht!» (Andrej Platonow)

Isaak Iljitsch Lewitan: Die Eiche (1880). Bildquelle: WikiArt
«Tatsächlich wird auch das Sterben nichts Besonderes sein – Tausende von Milliarden Seelen haben den Tod erlitten, und keiner kam zurück, um sich darüber zu beklagen.» (Andrej Platonow)
«Und nach seinem Entschluss zu sterben, legte er sich ins Bett und schlief ein mit dem Glück der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben.» (Andrej Platonow)
«Alle sterben am Leben – es bleiben bloß die Knochen.» (Andrej Platonow)
«Er begriff nicht, weshalb er sterben sollte, da er doch zum Leben geboren war.» (Andrej Platonow)
«Die Menschen sterben, weil sie in ihrer Krankheit allein sind und niemand da, der sie liebt.» (Andrej Platonow)
«Jeder Mensch, wenn er auch nur zwanzig [Jahre alt] wird, ist notwendigerweise oftmals dem Tod nah oder überschreitet sogar die Schwelle zu seinem Untergang, kehrt dann aber doch ins Leben zurück.» (Andrej Platonow)
«Ein Tod ist eine Tragödie. Eine Million davon – Statistik.» (Iossif Stalin)
«Für einen entwickelten Menschen bedeutet der Tod nicht einen Schmerz, sondern die Zerstörung eines Projekts.» (Michail Prischwin)
«Der Tod ist ein Phänomen, das sich über das ganze Leben erstreckt, unser Leben ist erfüllt vom Tod, vom Sterben. Leben heißt unablässig sterben, heißt das Ende von allem ausleben, ist das Standgericht der Ewigkeit über die Zeit.» (Nikolaj Berdjajew)
«Wie schlecht du auch aussiehst, der Tod wird sich gleichwohl nicht von dir abwenden.» (Arkadij Dawidowitsch)
«Im Krieg kann nur der Tod siegreich sein.» (Arkadij Dawidowitsch)
«Das Leben bereitet uns auf den Tod vor. Nacht für Nacht schließen wir die Augen.» (Walentin Domil)
«Das Leben ist eine große Überraschung. Womöglich wird sich der Tod als eine noch größere Überraschung erweisen.» (Wladimir Nabokow)
«Unser [russisches] Leben hat einen gewaltigen Vorzug vor dem Leben eines westlichen Menschen – es kommt fast ohne Todesangst aus.» (Jurij Nagibin)
«Vor meinem Tod hatte ich Angst vor dem Sterben. Seit meinem Tod habe ich diese Angst nicht mehr.» (Emil Krotkij)
«Jedes Leben ist ein Wettrennen auf einer zum Tod führenden Serpentine, doch auf den Lorbeeren hat man sich im Laufen auszuruhen.» (Wiktor Pelewin)
«Auf euren Tod ist die Welt genau so angewiesen wie auf eure Geburt, womöglich sogar noch mehr.» (Wiktor Pelewin)
«Der Tod bedeutet nicht nur den Verlust aller Ersparnisse. Er bedeutet auch den Fortfall der Notwendigkeit, für deren Mehrung und Wahrung zu kämpfen.» (Wiktor Pelewin)
«Unser Leben ist eine Kette von Ereignissen, von denen noch jedes mit einem kleinen Tod endet.» (Wiktor Pelewin)
«Alle, die gestorben sind. Sie sind stets an deiner Seite. Sie leben durch dich. Du lebst für sie. Du bist ihr Fenster ins Leben. Du bist sie.» (Wiktor Pelewin)
«Irgendwann wird der Tod alle erreicht haben. Uns hat er nur einfach noch nicht gefunden.» (Wiktor Pelewin)
«Ich habe die Asche durchsucht. Naja, die eines Fremden. | Doch etwas Vertrautes liegt darin, | obwohl wir durch Welten getrennt sind … | Nein, Diamanten hab ich darin nicht gefunden.» (Iossif Brodskij)

Archip Iwanowitsch Kuindschi: Landschaft. Steppe. (1890-95). Bildquelle: Wikioo
«Der Tod ist nichts als flaches Land. | Das Leben – Hügel, Hügel, nichts als Hügel.» (Iossif Brodskij)
«Der Tod – das sind alle Maschinen, | das ist ein Garten, ein Knast. | Der Tod – das sind sämtliche Männer | mit ihren schlaffen Krawatten. | Der Tod – das sind die Fenster im Dampfbad, | in der Kirche, den Häusern überall! | Der Tod – das sind all unsre Nächsten, | Nur ist es ihnen nicht klar.» (Iossif Brodskij)
«Wir wollen an den Tod nicht öfter denken | als die Krähe an die Vogelscheuche nebenan.» (Iossif Brodskij)
«Der kleine Tod eines Hundes. Der kleine Tod eines Vogels. Die normalen Ausmaße des menschlichen Todes.» (Iossif Brodskij)
«Der Tod ist das, was andern zustößt.» (Iossif Brodskij)
«Mache dir den Tod zu eigen, gewöhne dich an seine Präsenz hinter deinen Schultern, sei jederzeit bereit, ihm zu begegnen.» (Eduard Limonow)
«Tatsächlich wird der Mensch im Alter nicht krank, sondern unterliegt den Attacken des Todes. Er beißt ihn, er würgt ihn, bedrängt ihn mit seinen Hauern. Bisweilen tritt er etwas zurück, um erneut über ihn herzufallen.» (Eduard Limonow)
«Wenn die Menschen schon im Leben einander nicht gleich sind, sollten sie das doch wenigstens im Tod erreichen.» (Wladimir Wojnowitsch)
«Und einzig der Tod ist ein Triumph der Freiheit.» (Wladimir Wojnowitsch)
«Den Tod fürchte ich nicht, denn das Leben gehört ja mir!» (Wassilij Schukschin)
«Ich weiss nicht mehr, wer von den Großen einst sagte: Auf den Grabmälern sollte man nicht schreiben, wer der Mensch war, sondern wer er hätte werden können.» (Wassilij Schukschin)
«Entsetzlich ist ja nicht das Sterben, entsetzlich ist der Blick zurück – und da ist keiner, der deinetwegen ein Aufhebens macht, sein Bedauern bekundet … « (Wassilij Schukschin)
«Sag, was du willst, aber das Lebensende ist auf seine Weise interessant. Der letzte Akt dieses kurzzeitigen Geschehens ist jämmerlich, entsetzlich, ekelhaft, doch nicht ganz ohne eine gewisse Poesie.» (Jurij Nagibin)
«Alle grossen Menschen sind längst tot, und ich kränkle noch ein wenig.» (Michail Shwanezkij)
«Ich bin am Sterben, doch davon später mehr… .» (Wladimir Wischnewskij)
«Die Erde sei euch baldigst federleicht.» (Natalja Resnik)
«Die Schuld an meinem Tod bitte ich meinem Leben anzulasten.» (Gennadij Malkin)
«Und der Tod – das ist das Aufwachen aus dem Leben. Doch nicht wir sind’s, die aufwachen, denn wir selbst sind eine ebensolche Illusion wie alles, was uns umgibt. Wenn wir sterben, erwachen wir aus dem, was wir zu sein glaubten.» (Wiktor Pelewin)
«Der Tod ist die mit dem Leben nicht vereinbare Freiheit.» (Sergej Gubernatchuk)
«Der Tod ist eine Kleinigkeit, doch alles Große vermag er zu besiegen!» (Sergej Gubernatchuk)
«Der Tod wird zum Ereignis, weil das Leben so gewöhnlich ist.» (Sergej Gubernatchuk)
«Man hat Nöte und Erfolg gekannt, | Man hat geliebt, gefeiert und gedient, | Doch man stirbt und hat niemals gefühlt, | Dass man am Leben war.» (Igor Guberman)
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