Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti. Ein aphoristisches Porträt
Dialogisch vorgetragen von Friedemann Spicker und Jürgen Wilbert
am Donnerstag, 2. November 2023 um 19.30 Uhr in der Stadtbibliothek Hattingen
(im Anschluss an die DAphA-Jahreshauptversammlung)
Mit 60 immer noch ein literarischer Nobody, mit 76 Nobelpreisträger. Wie macht man das? Canetti wurde 1905 in Rustschuk, Bulgarien, als Sohn wohlhabender sephardischer Juden und türkischer Staatsangehöriger geboren. Politisch bedingt, folgte ein Vagabundenleben mit vielen Ortswechseln über die Landesgrenzen hinweg: Österreich, England, Deutschland, die Schweiz. Der Autor verfasst Dramen, einen Roman, seine Autobiographie in drei Bänden: „Er will durch die Geschichte seiner Kindheit Europa vereinigen.“ Vor allem schreibt er aber seit 1942 eine Vielzahl von Aufzeichnungen, mit denen er schon bald nach Lichtenberg, Nietzsche und Kraus den vierten Höhepunkt in der deutschsprachigen Aphoristik bildet. Hier exemplarisch zwei Textbeispiele: „Man zahlt viel für die falsche Bemalung des Glücks.“ / „Er bemühte sich, nicht zu viel Vorurteile auf einmal zu verlieren. Vorsicht, langsam, sonst bleibt nichts von ihm übrig.“ Sein Aphorismus „Die großen Aphoristiker lesen sich alle so, als hätten sie einander gekannt“ bildete übrigens den gedanklichen Anstoß zum 1. Aphoristikertreffen in Hattingen im Jahr 2004. Der dialogische Vortrag kann die Richtigkeit dieser Aussage Canettis mehrfach belegen: „Manche Sätze geben ihr Gift erst nach Jahren her.“
Die beiden Vortragenden, die das Deutsche Aphorismus-Archiv Hattingen auf die literarische Landkarte Deutschlands gehoben haben, bringen Ihnen an diesem Abend in ihrer bewährten aphoristisch-dialogischen Weise das Leben des Autors (1905 bis 1994), gewissermaßen als Spiegel des Jahrhunderts, nahe.
Der Eintritt ist frei.
(Porträtzeichnung von Andreas Noßmann.)
Arthur Schnitzler und der österreichische Aphorismus nach 1900 –
ein dialogisches Porträt zu seinem 160. Geburtstag im Jahr 2022
vorgetragen von Friedemann Spicker und Jürgen Wilbert
am Dienstag, 8. November 2022 um 19 Uhr im Stadtmuseum Hattingen
(im Anschluss an die DAphA-Jahreshauptversammlung)
Eine Kooperationsveranstaltung der VHS Hattingen mit dem Deutschen Aphorismus-Archiv Hattingen e.V.
Der Schriftsteller Arthur Schnitzler gilt als einer der herausragenden Vertreter der Wiener Moderne. Bekannt geworden ist er vor allem durch seine dramatischen Stücke „Reigen“, „Fräulein Else“ und „Traumnovelle“. In seinen Dramen und Erzählungen behandelt er vor allem Fragen der menschlichen Beziehungen und kommt in der Schilderung der psychischen Vorgänge Sigmund Freuds Analysen erstaunlich nahe.
Seit 1879 verfasste er auch Aphorismen, insbesondere in seinem „Buch der Sprüche und Bedenken“. Daraus seien im Folgenden drei seiner Kurztexte zitiert:
- „Es bedeutet zuweilen einen schlimmeren Betrug an der Geliebten, sie selbst, als eine andere in den Armen zu halten.“
- „Gibt es einen Gott, so ist die Art, in der ihr ihn verehrt, Gotteslästerung.“
- „Auch das ist Lüge und oft die kläglichste von allen: sich anzustellen, als wenn man einem Lügner seine Lüge glaubte.“
Im dialogisch gestalteten Vortrag wird auch auf andere Schriftstellerkollegen aus seiner Wiener Zeit eingegangen, so u.a. auf Peter Altenberg und Hugo von Hofmannsthal.
Die obige Porträtzeichung stammt von Andreas Noßmann.
„Wahrheit – Lüge – Täuschung“
Die Gewinner:innen des Aphorismenwettbewerbs 2022 präsentieren ihre Texte zum aktuellen Thema – mit einem Musikprogramm.
Im Rahmen der Buchvorstellung am Sonntag, 23.10.2022, 11:30 Uhr im Stadtmuseum Hattingen werden einige der Preisträger:innen anwesend sein und ihre für die Anthologie ausgewählten Aphorismen vorstellen.
Das Thema war dieses Mal gleichermaßen aktuell wie zeitlos. Zu den Gewinnertexten zählen:
„Abkürzung zur Wahrheit: Auf dem Holzweg querfeldein.“
(vom 1. Preisträger Thomas Möginger aus Büchlberg)
„Lügen haben kurze Beine und daher eine lange Laufzeit.“
(von Jörg Dahlbeck aus Löhne, 2. Platz)
Vom Drittplatzierten Autor aus Grünstadt, Horst A. Bruder, stammt
„Das digitale Netz lebt von der Masche.“
Das Publikum erwartet eine Vielfalt von anregenden und wortwitzigen Kurztexten. Ein abwechslungsreiches musikalisches Programm präsentiert der Gitarrist Jochen Jasner.
Eintritt: frei
Das 9. Aphoristikertreffen
ist am 5.&.6.11.21 mit begrenzter Personenzahl erfolgreich über die Bühne gegangen.
Siehe im Folgenden den kurzen Tagungsbericht und den Presseartikel in der WAZ vom 8.11.2021 über den abschließenden Kabarettabend.
„In der Streitbar.“
Tagungsbericht zum 9. Aphoristikertreffen am 5. & 6. 11. 2021
Soviel „-bar“, soviel „hairlich“ war nie wie gegenwärtig; wir erleben im öffentlichen Raum, in Werbung und Geschäftsleben eine Konjunktur des Wortspiels, oft arg an den „Hairen“ herbeigezogen. Das mag den untermittelmäßigen Titel unseres Tagungsberichts erklären oder sogar entschuldigen. Immerhin können wir auf diese Weise die Beiträge als Cocktails servieren.
Am Ende stand eine Enttäuschung: Streit, wie er nach der klassischen Lehre der Einheit von Inhalt und Form auf einer Tagung unter dem Titel „Streitbar und umstritten“ vielleicht zu erhoffen gewesen wäre, gab es nämlich nicht. Dafür wurde viel gelacht. Man muss nicht unbedingt Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“ noch einmal herbeizitieren, als Stimmungsbarometer für das Treffen eignet sich diese Tatsache trotzdem.
Aber ein Glas nach dem andern: Den Aperitif als Begrüßung und Eröffnung bestritten (!), übrigens ganz harmonisch, die stellvertretende Landrätin Sabine Kelm-Schmidt und Dr. Jürgen Wilbert als der Vorsitzende des Fördervereins DAphA. Nach Rot- oder Weißwein, erfreulich unmetaphorisch, und Schnittchen gab es 14 „Kurze“: die Lesung der Aphoristiker/innen zum Tagungsthema „Streitbar und umstritten“. Damit konnte man, um im Bild zu bleiben, trefflich vorglühen. Das klassische Gitarrenduo „WeimerSisters“ konnte die Zuhörer/innen mit ihrer lebendigen und virtuosen Darbietung abermals begeistern.
Am nächsten Vormittag gab es mit Friedemann Spickers Streifzug durch die Gattungsgeschichte „Parteiisch! Mit Aphorismen streiten“ ein erstes Mixgetränk. Er rührte Diverses aus der Gattungsgeschichte hinein, stellte – jetzt bar jeden Bildes – im Krebsgang Oppositionspaare einander gegenüber und inszenierte in der Vorstellung Streitgespräche mit ihren Aphorismen: so in der Gegenwart Martin Walser und Peter Handke, zu „1968“ Nikolaus Cybinski und Hans Kasper, für die DDR André Brie und Horst Drescher, die Jahre der Emigration Franz Werfel und Bertolt Brecht, für die Weimarer Republik Gerhart Hauptmann und Kurt Tucholsky sowie im 19. Jahrhundert Karl Gutzkow und Marie von Ebner-Eschenbach und im 18. Jahrhundert Johann Wolfgang Goethe und Georg Christoph Lichtenberg, einerseits die (scheinbar) „Sanften“, in der „Streitbar“ gewissermaßen alkoholfrei, andererseits, hochprozentig, die bewusst streitbaren, sozialkritischen Autoren, Kategorisierungen, das machte die Diskussion bald deutlich, die einerseits verfälschen, andererseits aber auch klärend wirken. Sanfter Widerstand, das wäre doch im dialektischen Sinne hochwillkommen. Haben die einen „ihre Umdrehungen“ nur unter den Scheffel gestellt (mehr Bildbruch geht nicht), sind also in ihrer konservativen Friedfertigkeit höchst anstößig, wenn man statt der Produktionsseite die Rezeptionsseite in den Blick nimmt? Waren die andern bissig, oder haben sie sich nur verbissen? Und wie entwickeln sie sich im Glas? Trocknen sie aus? Ändern sie ihren Geschmack; bleiben die „schönen“ Farben übrig, wenn die politische Essenz sich verflüchtigt hat?
Klaus Hansens Vortrag „Der Aphorismus als Randerscheinung in der politischen Sprache und als Medium der politischen Bildung“ entwickelte nach einer kurzen Definition von Politik einerseits, Aphorismus andererseits vier „Arenen“ des Kampfes um Wörter und unterschied zwischen Bedeutungskonkurrenz (etwa beim Begriff „Imperialismus“ im Duden der DDR und dem der Bundesrepublik), Bewertungs-konkurrenz (der Konnotationssteuerung oder dem „framing“), Besetzungskonkurrenz und Bewertungsumkehr (der Entwendung eines Fahnenwortes wie „Pazifismus“). Die semantischen Eigentümlichkeiten der politischen Sprache wiederum führte er in drei Dimensionen des Politischen vor, 1. polity: die Verfassung, 2. policy: die verschiede-nen Politikfelder, 3. politics: die prozessurale Dimension mit der Macht im Mittelpunkt. Zu 1. überraschte er mit einer Lesart, die die ersten Sätze des Grundgesetzes als Basta-Aphorismen und Amtsaphoristik las. In der policy ist für Aphorismen kein Platz, hier geht es um Technolekte und Steuerung durch Begriffe wie „Respektrente“ oder „das Geordnete-Rückkehr-Gesetz“. In der Sprache der politics findet die sprachpolitische Auseinandersetzung statt, in der es der Aphorismus schwer hat und in der Gegnerschaft ohne Verfeindung möglich sein muss. Aber die Grenzen der Sagbarkeit sind enger geworden. Ein Überblick in vier Schritten über den „Aphorismus als Medium der politischen Bildung“ rundete den Vortrag ab. Ein Cocktail, der in der Theorie hochprozentig war und aufs Angenehmste belehrte, aber durch die vielen anschaulichen Beispiele (so vier Kurztexte zu „Demokratie“) und die Art der Darbietung auch äußerst bekömmlich und anregend war, wie die Diskussion bewies.
Christopher Busch hatte einen mit Spannung erwarteten Vortrag über „Rechtspopulistisches im Aphorismus der Gegenwart“ angekündigt, erkrankte aber leider kurzfristig. Dafür servierte Jürgen Wilbert am frühen Nachmittag als Longdrink einen Streifzug durch die Geschichte des politischen Kabaretts von 1900 bis heute unter dem von Robert Gernhardt enlehnten Titel: „Kabarette sich wer kann!“ – Arbeitstitel: „Der Stellenwert des Aphorismus im politischen Kabarett Deutschlands“. Er vermied es, zu viel Eis dazuzutun, sprich: zu breit auszuführen, indem er sich auf den Grenzbereich zwischen Wortkabarett und Aphorismus beschränkte. Auch profilierte neuere Vertreter/innen (Volker Pispers, Georg Schramm, Max Uthoff, Lisa Eckhart u. a.) kamen dabei zu Wort. Wo sind die Grenzbereiche bei dem – schriftlichen Aphorismus und dem – mündlichen Kabaretttext mit seinen diversen im Gattungssinne ‚unreinen‘ Formen (Lyrisches, Szenisches)? So lautete die eine Grundfrage des Vortrags wie der anschließenden Diskussion. Die andere: Will und kann der Kabarettist reale Verhaltensänderung erreichen, oder bleibt es bei folgenloser Belustigung und Bestätigung?
Einen Spezialdrink mixte Lutz von Rosenberg-Lipinskys Bericht aus der Werkstatt eines Kabarettisten mit dem Titel „Streitbare Aphoristik und politisches Kabarett“. Er
fürchtete, einen Kopf kürzer gemacht zu werden von Aphoristikern, die immer alles verkürzen, und war damit schon mitten in seinem Sprach-Metier. Er bekannte, vor allem von Kraus und Cioran beeinflusst zu sein, umriss aber auch den Unterschied zwischen beidem mit dem Bild von Punkt (Aphorismus) und Linie (Kabarett). Er reflektierte die jeweilige Zielgruppe und die unterschiedliche Rezeption. Passen die beiden überhaupt zusammen? Und Denken? Etwa so: „Störungen. Die helfen beim Denken.“ „Wenn, dann nicht für, sondern immer dagegen.“ „Gedanken bitte nur einzeln denken.“ Seine omnipräsente Sprachsensibilität bewies der Vortrag ebenso wie erst recht dann sein neues Programm „Demokratur. Die Wahl der Qual“, Abschluss und Höhepunkt des Aphoristikertreffens, zu dem auch eine coronabedingt schmale Auswahl ‚externer`Gäste hinzukam (insgesamt maximal 50 Personen).
Die WAZ vom darauf folgenden Montag (Lokalteil Hattingen) hob es entsprechend heraus. „Alles gut!“ Auch diese Floskel ließ niemand niemandem unkritisch durchgehen. Sachlich stimmte es hingegen aufs Haar. Auch der scheinbar verlorene Mantel fand sich zu guter (!) Letzt wieder ein.
Und das Schönste: kein Kater, im Gegenteil: Auf die Ergebnisse der Beurteilungsbögen konnten die Veranstalter privatim anstoßen. Die Tagung wird insgesamt als „gelungen“ und „sehr gut organisiert“ bezeichnet. Hervorgehoben werden eigens die „angenehme Atmosphäre“, „die kollegiale Stimmung“, „der konzentrierte Programmablauf“, „die gute Moderation“, ferner „die gute Versorgung mit Essen und Trinken“. Hier einige Zitate: „Alle drei (Vorträge) überaus anregend“; „nachhaltig inspirierend“; „substanzreich“; „attraktiv auch für Aphorismus-Laien“; „kreative, streitbare Diskussion“. Insgesamt: „Ein Feuerwerk an Geistesblitzen“; „Purer Hochgenuss!“; „Der Tag ist wie im Flug vergangen.“ Über diese längeren und aufbauenden Anmerkungen freuen sich die Veranstalter besonders und fühlen sich ermuntert, ein weiteres, dann 10. Aphoristikertreffen in zwei Jahren ins Auge zu fassen: „Dieser fast vergessene Hunger (nach fachlichem Austausch) wurde auf´s Schönste gestillt, zumindest ein wenig – aber nicht für lange!“ Und abschließend: „Danke für Ihren Mut, die Veranstaltung stattfinden zu lassen. Denn es gibt wenig Literaturgattungen, die über so wenige Möglichkeiten verfügen, sich auszutauschen. Deshalb: DAphA ist weiterhin ein Glücksfall für alle, die dieser Literaturgattung fröhnen!“
– Das musste dann doch mal zitiert werden!
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Artikel in der WAZ
vom 8.11.2021 über den abschließenden Kabarettabend:
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