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Jürgen Wilbert über:
Von Mensch zu Mensch – 200 Gedanken über das, was uns ausmacht. Ausgewählt von Charles Lewinsky. Zürich: Diogenes 2024.
Im namhaften Diogenes-Verlag ist 2024 eine Anthologie mit aphoristischen Kurztexten erschienen. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus Zitaten von zumeist berühmten Autoren / Autorinnen (u. a. Aristoteles, Ghandi, Moliere und Shakespare), aber auch von lupenreinen Aphorismen (u. a. von Marie von Ebner-Eschenbach, Hebbel, Kraus und Swift). Thematischer Bezugspunkt ist jeweils das, was den Menschen als „Säugetier aus der Ordnung der Primaten“ (so der Titel des Vorwortes) im Hinblick auf seine wesensmäßigen Eigenschaften auszeichnet. Bei der Namensfindung entstand Verwirrung, denn man entdeckte „viel zu viel Widersprüchliches, Positives und Negatives … So nannten sie das neue Wesen Mensch. Ein Wort, auf das sich nicht einmal etwas reimt.“ (S. 10) Das Bild eines Kamels auf dem Cover des Umschlags verweist auf den Ausspruch von Jeremias Gotthelf: „Der Mensch ist ein ganz kurioses Kamel.“
Die Bandbreite der menschlichen Eigenschaften und Zuschreibungen wird bereits im Klappentext angesprochen: „Schopenhauer hielt ihn für unglücklich, böse und verrückt, Montaigne für „wunderbar eitel“ und „völlig verrückt“. Charles Lewinsky, der Herausgeber, ist Dramaturg, Regisseur und Autor; er wurde 1946 in Zürich geboren. Nach seiner Arbeit als Redakteur beim Schweizer Fernsehen widmete sich Lewinsky ab 1980 ganz dem Schreiben. Für seine Werke (u. a. die Romane Melnitz, Der Halbbart, Täuschend echt) wurde der Autor mit Preisen ausgezeichnet (zum Beispiel mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank). In dieser Anthologie hat er 200 Zitate über das Menschsein zusammengetragen. Darunter stößt man auf so manche Überraschung: „Jeder Mensch ist eine verkleidete Gottheit, ein Gott, der den Narren spielt.“ (Ralph Waldo Emerson) Es sind auch witzige Vergleiche dabei, wie der von Baltasar Gracian: „Mit zwanzig ist der Mensch ein Pfau, mit dreißig ein Löwe, mit vierzig ein Kamel, mit fünfzig eine Schlange, mit sechzig ein Hund, mit siebzig ein Affe, mit achtzig – nichts.“ Auch Mark Twain wird zitiert: „Enttäuscht vom Affen schuf Gott den Menschen. Danach verzichtete er auf weitere Experimente.“ (Es sind keine Seitenangaben möglich, da diese aus unerfindlichen Gründen im Büchlein außer beim Vorwort fehlen.)
Über die Intention des Verlags schreibt am Ende des Buches Daniel Keel: „Der Diogenes Verlag will durch lesbare Literatur unterhalten, durch Neues vor den Kopf stoßen, aber auch Altes neu entdecken. (…) So viel wirklich Neues kann es gar nicht geben.“ Und hier verweist er auf Karl Kraus: „Echte Avantgarde … ist nichts anderes als der mutige Rückschritt zur Vernunft – …“. So erklärt sich auch, dass die Textauswahl von Lewinsky Zitate aus vielen Jahrhunderten beinhaltet.
Es finden sich in der Textsammlung auch viele abgegriffene, daher nicht mehr sehr erhellende Sprüche, wie etwa dieser Bibelspruch „Was der Mensch sät, das wird er ernten.“ Oder dieser von Goethe: „Es irrt der Mensch, solang er strebt.“ Lewinsky hat auch den einen oder anderen gereimten Lyriktext mit aufgenommen (zum Beispiel von Byron und Spitzweg). Die Anthologie ist in jedem Falle für diejenigen eine Fundgrube, die Vergnügen an geistreichen Gedankensplittern haben. Sie werden sich bei der Lektüre an manchen originellen oder inspirierenden Kurztexten erfreuen, so etwa an diesem von Jules Renard: „Der Mensch ist erst dann wirklich frei, wenn er eine Einladung zum Abendessen ablehnen kann, ohne eine Ausrede nötig zu haben.“ Oder an diesem unmissverständlichen Bildaphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach: „Jeder Mensch hat ein Brett vor dem Kopf – es kommt nur auf die Entfernung an.“
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