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Andrej Platonow
Aphorismen, Sprüche, Werkzitate
Aus dem Russischen und mit einer Vorbemerkung von Felix Philipp Ingold
Als der russische Schriftsteller Andrej Platonow (eigentlich Klimentow) 1951 im Alter von 52 Jahren starb, war er kaum dem Namen nach bekannt. In Literaturkreisen erinnerte man sich allenfalls an seine Reportagen, Berichte und Geschichten aus der Zeit des Bürgerkriegs und der forcierten Industrialisierung. Durch seinen militanten Einsatz für die Elektrisierung und Mechanisierung der sowjetischen Landwirtschaft in den 1920er/1930er Jahren machte er sich als «Held der Arbeit» verdient, doch als Autor war er stets umstritten – im offiziellen Literaturbetrieb (und persönlich bei Stalin) provozierte er massive Kritik wegen seiner ideologischen Abweichungen von der vorgegebenen Generallinie. Andererseits gewann er aufgrund seiner weitläufigen, autodidaktisch erworbenen Allgemeinbildung den Ruf eines «Arbeiter-Philosophen».
Platonow wuchs in der ländlichen Provinz um Woronesh als Sohn eines Lokführers und einer streng gläubigen orthodoxen Christin auf, besuchte dort die Grundschule, ehe er mit vierzehn Jahren Fabrikarbeiter wurde. Nach der Revolution von 1917 begann er am Polytechnikum ein Studium in Elektrotechnik, das er jedoch bald wieder abbrach, um als Journalist über den Bürgerkrieg zu berichten, an dem er vorübergehend auch als kämpfender Rotgardist beteiligt war. Mit vielen Artikeln, Erzählungen und Gedichten unterstützte er die bolschewistischen Grundpostulate: Aufhebung der Persönlichkeit im Kollektiv; Unterwerfung der Natur im Interesse umfassender Industrialisierung; Verstaatlichung der Landwirtschaft; Modernisierung des Verkehrswesens (Strassenbau, Eisenbahn, Flugverkehr); Elektrifizierung des Landes und Alphabetisierung der Bevölkerung; Proletarisierung der Kultur.
Gefragt nach seinen Präferenzen im sowjetischen Literaturbetrieb, antwortete Platonow 1920 bei einer offiziellen Umfrage: «Habe keine, bin mir selbst genug.» Damit ist das unaufhebbare Dilemma seiner wechselhaften, letztlich erfolglosen Karriere als Sowjetautor benannt. Wohl war er bis zur Selbstverleugnung linientreu engagiert, doch nie vermochte er dieses Engagement mit seinen persönlichen Überzeugungen und Bedürfnissen in Einklang zu bringen: Der Sinn des Lebens – für ihn die vorrangige Frage – ist nicht im Kollektiv zu gewinnen, er muss individuell realisiert werden. Von daher erklären sich die zahlreichen Querelen, die Platonow in der Auseinandersetzung mit Parteigremien und literarischen Vereinigungen permanent zu bestehen hatte: Wo auch immer er «Mitglied» oder gar «Vorsitzender» wurde, überall geriet er wegen seiner Eigenwilligkeiten (und nicht zuletzt wegen seiner aggressiv sich auslebenden Schwermut) rasch in Konflikt, verlor seine Anstellungen, musste anderswo neu ansetzen, und die Querelen begannen von vorn.
Nicht anders erging es Platonow in seinem Verhältnis zur zeitgenössischen Literaturkritik, die ihn abwechselnd mit hohem Lob und harschem Tadel bedachte. Man schien zu ahnen, dass seine explizite parteiliche Linientreue lediglich eine Simulation war, um eigene ideologiekritische Vorbehalte zu kaschieren. Von «ideologischer Zweideutigkeit» war dann die Rede, was manche Parteiliteraten mit Diversion gleichsetzten. Unter solch prekären Voraussetzungen konnten in der Stalinzeit zwar immer wieder einzelne Titel von Platonow erscheinen (wenn auch oft mit merklichen Zensurstrichen), darunter die Erzählbände «Die Epiphanischen Schleusen» (1927), «Heraufkunft eines Meisters» (1929) und «Der Fluss Potudan» (1937), doch all diese Texte wurden in der Sowjetpresse wegen der ideologischen Unzuverlässigkeit des Autors und seiner angeblich religiösen Voreingenommenheit scharf kritisiert. Stalin selbst drangsalierte ihn als einen «anarchischen» Staatsfeind und liess in der Folge seinen 15jährigen Sohn als «politischen» Häftling in ein Arbeitslager verschicken. Auch wenn Platonow persönlich von direkten Strafmassnahmen verschont blieb, stand er doch stets unter behördlichem Druck.
Meisterwerke wie «Die Baugrube» (1929), «Tschewengur» (1927-1929), «Das Meer der Jugend» (1932), «Die glückliche Moskwa» (1933-1936) blieben in der UdSSR bis in die 1980er/1990er Jahre unveröffentlicht. Seither aber gilt Andrej Platonow als ein Protagonist moderner russischer Erzählkunst; seine Werke, Briefe und Tagebücher liegen in zahlreichen Sammel- und Einzelpublikationen vor. Viele seiner Kernaussagen sind in die russische Aphoristik eingegangen.
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Die Wahrheit ist ein Geheimnis, stets ein Geheimnis. Offenkundige Wahrheiten gibt es nicht.
Verglichen mit den Toten sind die Lebenden Scheisse.
Das Geld für den Sinn des Lebens geht stets an ein Mädchen.
Der Sozialismus gab sich grau und langweilig wie Christus. (Kollektivierung!)
Kriechst du der Frau ins Ohr, triffst du auf ihre Seele.
Wie gut ist doch das Leben, wenn das Glück unerreichbar bleibt und darüber lediglich die Bäume rauschen und die Weise der Blasmusik im Kultur- und Erholungspark.
Schon dachte ich, die ganze Welt geht unter, doch das bin ja nur ich.
Die Leichen in der Baugrube – Same der Zukunft in einer Erdspalte.
Was haben diese Knochen gemacht, als noch kein Leib an ihnen hing!
Das Leben hat Ähnlichkeit mit mir!
Düster das Land, doch in ihm strahlt der Mensch.
Du brauchst dich selbst nicht zu spüren – die andern spüren dich ja auch nicht.
Für den, der versteht, existiert das Weltall nicht.
Du solltest nichts zu Ende bringen: Jedes Ende ist ein Scherz.
Trink Wodka – und gleich wird deine ganze Weltanschauung umgebaut sein.
Der Wind – Hirte der Sandwüsten.
Die Frau – Herrin der Tierwelt, der Insekten und Reptilien.
Über der Erde gibt es zweifelsfreie Vögel.
Die Wahrheit ähnelt sich selbst immer nicht.
Es gibt ausser der Liebe noch andere Leidenschaften, von denen der Mensch notfalls leben könnte.
Mein Gott, wie rasch doch alles vor sich geht – für nichts und wieder nichts.
«Die Wahrheit – aber das sind doch Kleinigkeiten.»
Die Erde ist nicht gross und nicht ergiebig – und ihre jämmerliche Anpasserei nennen wir Kultur.
Ein Arzt: «Das Leben ist voll von erlogenen Ereignissen, und die tatsächlichen Ereignisse bleiben unbekannt.»
Mag ja sein, dass das rein Animalische uns zur Liebe verlockt, derweil uns das Unmenschliche, Wahnhafte, Seelenlose solcher Liebe (des Sexus) kränkt.
Er war besoffen vom Herzen her, von nichts.
Ich hab dich doch geküsst, als du ein Junge warst, und nun bist du tot.
Eine langjährige Ehe beruht nicht auf der Treue der Partner, vielmehr darauf, dass einer von ihnen, oder auch beide, insgeheim jemand anderes lieben.
Liebe, das ist die Übertragung der Verantwortung auf jemand anderes, mit dem Anspruch auf die eigene Leere.
Die Erde ist so kalt und ungeschützt, dass man auf die Familie wie auf ein armseliges Öfchen angewiesen bleibt.
Der Mensch braucht unbedingt ein zweites Leben, sonst bräuchte er auch kein erstes, und es hätte niemals stattgefunden.
Für den Verstand liegt alles in der Zukunft, für das Herz – alles in der Vergangenheit.
Eine erhabene Greisin regiert die Welt.
«Ihr mögt an Schnupfen leiden, an Durchfall, an Durchzug, an Typhus, ich selbst leide bloss an grossen Krankheiten, die euch unverständlich sind. Ich bin nicht wie ihr.»
Dramen erwachsen daraus, dass die Menschen nicht allein sein können; so auch Komödien.
Frauen umgeben uns wie die Luft, sie tun, was sie tun, indem sie den Willen derer erfüllen, von denen sie herabgesandt sind – sie sind ohne Schuld, kein Grund also, sich mit ihnen zu befassen.
Zufriedenheit kann dem Menschen keine Lehre sein.
Alles kommt vor auf der Welt und kehrt stetig wieder – allein die Zeit ist unwiederbringlich.
Schon lange will mir scheinen, dass der Geist, das Talent, die Kraft, die Tapferkeit des Menschen etwas Widerwärtiges in sich trägt.
Der Krieg kann zu einem beständigen Phänomen werden: Als eine neue Art von Industrie, hervorgehend aus zwei Gründen – wegen des «freien» Überschusses an Produktionskräften und der «Verwüstung der Seelen».
Robinsons Gelingen: Er wurde nicht von den Leuten gestört, da gab’s nicht einen einzigen Menschen – liegt nicht darin das Geheimnis jeglichen Erfolgs?
Wir haben sämtliche Tiere überwältigt, doch sie sind alle in uns eingegangen, und sie leben als Untiere in uns fort.
Die Maschine duftet nach Tod.
Die Wahrhaftigkeit, die Wahrheit hat einen grossen Mangel – sie hält sich für ein Heil und will mit allen Mitteln zu einer universellen Errungenschaft werden.
Gott ist ein erhabener Versager.
Gott existiert und Gott existiert nicht: Er hat sich in den Menschen breit gemacht, weil er Gott ist, und ist in ihnen verschwunden, und es kann nicht sein, dass er nicht ist, und es kann auch nicht sein, dass er ewig in der Zerstreuung verharrt, in den Menschen, ausserhalb seiner selbst.
Die Wahrheit tritt stets in Form der Lüge auf; das ist die Selbstverteidigung der Wahrheit, und jeder macht sie sich zueigen.
Er wurde glücklich, wie er es schon immer gewollt hatte, wobei alles Ungemach in den Pausen zwischendurch geschah.
Wenn man rechtschaffen lebt – im Geist, im Herzen, durch Leistung, Opfer, Pflicht – , dann stellen sich keinerlei Fragen, und der Wunsch nach Unsterblichkeit u. ä. m. kommt gar nicht erst auf. All diese Dinge resultieren aus unreinem Gewissen.
Das Leben besteht darin, dass es schwindet.
Gott ist ein verschiedener Mensch, ein Toter.
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Quelle: Andrej Platonow, Dnevniki, Moskva 2000
https://imwerden.de/pdf/platonov_zapisnye_knizhki_materialy_2000_text.pdf
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