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Friedemann Spicker über:
Botho Strauß: Das Schattengetuschel. München: Hanser 2024.
Wenn man Botho Strauß mit seinen Aufzeichnungen seit 1981 („Paare, Passanten“) unter einen postmodernen Fragmentarismus subsumiert, so schließt das nicht aus, dass er mit diesem Teil seines Werks nicht nur die aphoristischen Gattungstraditionen fortsetzt, sondern sich mit der Integration von Denken und Fühlen wie auch mit den mystischen Aspekten in zentralen Zusammenhängen zumal der moderneren Gattungsgeschichte bewegt. Seine Denk-Dicht-Kunst, die die „Poesie unseres Denkens“[1] verfolgt, stellt sich in neuer Form in das Grenzgebiet zwischen Wissenschaft und Literatur als verschiedener Erkenntnisweisen, in dem der Aphorismus seit je heimisch ist; Gattungsgrenzen werden innovativ umspielt. Akzentuiert ist dieser aphoristisch-fragmentarische Aspekt in den von Volker Hage herausgegebenen „Gedankenfluchten“ von 1999 und dem „Gedankenbuch“ „Allein mit allen“ (2014). Der Autor selbst lässt solche Gattungsfragen souverän hinter sich: „Jeder nennt es anders, Sudelhefte, Cahiers, Aufzeichnungen, Gedankenbuch. Bei mir ist es Die Streu, auf der ich schlafe, die ich schlafe.“[2]
Der neue Band „Schattengetuschel“ bietet den willkommenen Anlass, den Autor erneut aus der Gattungsperspektive heraus zu diskutieren. Er ist von der Kritik sogleich vielfach beachtet worden. Ein weiteres Mal wird der konservative Kulturkritiker mit seiner politischen Romantik-Tradition herausgearbeitet (Jörg Magenau, Deutschlandfunk Kultur, 22. 10. 2024). Der Band wird als „Manifest des Mißvergnügens“ (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 22. 10. 2024) gelesen, sein Autor des „auffällig ziselierten Stil“ wegen kritisiert (Helmut Böttiger, Deutschlandfunk, 22. 10. 2024), aber auch als „Meister des Aphorismus“ (Andreas Wirtensohn, wdr Kultur) gefeiert.
Der Band selbst – das ist das Neue – betont durch seine Gliederung den aphoristischen Aspekt, indem er nach einem ersten Kapitel „Um uns im Raum ein ruhloses Flüstern, als käm es von tuschelnden Schatten“, das Porträts, Szenen, Dialoge, Anekdoten und absonderliche Vorkommnisse, Kerne zu traumhaften Geschichten, oft über Paare, zusammenstellt, sowie einem zweiten „Der allzeit Unzeitgemäße“, das überwiegend kurze Reflexionen enthält, im dritten Teil mit dem Titel „Auch einer: der Sätzemacher“ eben solche „Sätze“ formuliert. Das heißt nicht, dass sich aphoristische Elemente nicht auch in den beiden anderen Kapiteln aufspüren ließen, in besonders konzisen Formulierungen ( „[…] Nur ein Zungenschnalzer im weltweiten Geschnatter des Namedropping. […]“, S. 74) und vor allem am pointiert resümierenden Ende eines solchen essayistisch-narrativen Textes, wie man es im Essay als dem ‚großen Bruder‘ des Aphorismus überhaupt beobachten kann, etwa bei Adorno: „[…] Man muß eine Menge Welt malen, bis eines Menschen Verlorenheit darin zum Vorschein kommt.“ (S. 108); „Wir stottern an einem zusammenhanglosen, schier unleserlichen Text herum, das ist ‚der andere‘.“ (S. 140f.) Dem herkömmlichen Aphorismus gegenüber beweist Strauß schon hier größten Abstand; er bezeichnet die Kritik des Alten, des Unzeitgemäßen selbstironisch als „schneidige Sentenzen“, ob sie nun etwas großsprecherisch daherkommt („Jawohl, wir benötigen neue Mauern: antimedienimperialistische Schutzwälle.“, S. 188) oder vorsichtig in Metapher und Frage gekleidet ist: „Zu allem der leichte Zugang. Immerzu nur auffliegende Türen – doch wo die eine verbotene Pforte?“ (188)
Das aphoristische dritte Kapitel, auf das ich mich hier konzentriere, ist schlicht in neun Teile („Eins“ bis „Neun“) gegliedert und geht schon in seinem Motto auf die Besonderheit dieser „Sätze“ ein: Sätzemacher „müssen aufpassen wie die Heftelmacher, auch ihre Feinarbeit berücksichtigt winzige Ösen und Haken.“ (S. 191)[3] Die Diskrepanz zwischen der scheinbar einfachen Bezeichnung und dem darin erhobenen Anspruch macht der Autor an anderer Stelle unmissverständlich klar: „Mein Sätze bieten Asyl dem vielsagenden Deutsch.“ (S. 221) Worin dieses „Asyl“ besteht, ist zu ermitteln, die „Ösen und Haken“ wollen zu diesem Zweck bedacht sein. Den „schneidigen Sentenzen“ der üblichen Art sagt er hingegen auch hier expressis verbis den Kampf an: „Stichworte, apophthegmata, sententiae brevis vel auctum dictum, Stiche, die erst mit einiger Verzögerung wehtun. Tod dem Aphorismus. Nieder mit der Gescheitheit:. ‚…denn der Teufel ist lauter Geist … es ist keinerlei Dunkelheit im Teufel…‘ (Kierkegaard, Krankheit zum Tode)“. (S 198)
Seine Gewährsleute, so Novalis und Kierkegaard, sind längstens bekannt, aber wer außer ihm würde heute noch die „Fermenta cognitionis“ zitieren, wer auf ihren Autor Franz von Baader (1765-1841) rekurrieren, der hier in „Sätzen“, unverbundenen, numerierten Abschnitten, Überlegungen auf dem Grenzgebiet von Erotik, Philosophie und Religion anstellt?
Strauß’ Sätze nun reichen im Zugriff seiner Denk-Dicht-Kunst von religiösen Fragen („Theophan. Gott durchscheinen lassen., dafür gibt’s den Menschen.“ (S. 195) und poetischen Naturimpressionen („Sich verlieren, an das Licht im Herbst, an den kugelrunden Eulen-Blick, an das Geräusch de Bachlaufs – sich verlieren, das ist ohne Ansinnen, ohne Urteil ein. Sich verlieren, wie ein Duft vom Handrücken weicht.“, S. 209) bis zu unerwartet aktuellen Problemen, der Wiedervereinigung, der Migration oder – im Kontext des Ukraine-Krieges – Tucholskys Diktum „Soldaten sind Mörder“ (S. 198). Die Spanne reicht von einem Bild, das Deutung verlangt („Einmal nur eine Fingerspitze, die nicht zeigt, sondern Untragbares balanciert.“, S. 227; „Denkbar wird manches nur noch nahe der Lohe. Und eines Tages wird ein Denken die Lohe selbst., S. 198), im Einzelfall bis zu dem durchaus vordergründig bekennerhaften „Satz“ „Für mich wäre es das Schlimmste, aufs Schlimmste nicht gefaßt zu sein.“ (S. 227) oder der unüberraschenden Einsicht: „Ein Blick, der unbewußt an etwas Nebensächlichem hängenbleibt, ist nicht selten eine Keimzelle neuer Einsicht.“ (S. 199), die vom aphoristischen Anspruch her gesehen auch syntaktisch schwach ist („nicht selten“).
Bezeichnend aber und von singulärer Bedeutung ist neben seiner so preziösen wie präzisen Sprache („worfeln“, S. 206; „gleisnerisch“, S. 196; „selbdritt“, S. 41) die Art und Weise, in der er sich stilistischer Mittel der Gattung und spezieller Typen wie des aphoristischen Porträts bedient sowie typische Themen des Aphorismus neu entwickelt. Das Oxymoron etwa ist hier nicht Träger einer durchsichtigen Verblüffung, sondern geheimnistragendes Ausdrucksmittel: „Bergab das Herz voll Gipfelstürmerei.“ (S. 197) Bezeichnend ist weniger das Porträt dessen, der sich auf fatale Weise fit macht („Sein wirksamster Fitmacher war von kleinauf der Selbstbetrug.“, S. 211), als das Porträt des Verstorbenen („Des Erloschenen zartes Nachscheinen. Die Aura der vollendeten Person.“, S. 209). Die je eigene Sprache („Fitmacher“, „Nachscheinen“) passt sich dem an. Sein Er-Aphorismus (oft als Sie-Aphorismus), dieser besondere Typus, der die ganze Gattungsgeschichte begleitet, zeigt einerseits die Schlacken seiner Herkunft:
„Er mag sagen, was er will, solange er nicht das Sagen hat.“ (S. 194)
„Er schweigt so gleisnerisch wie er redet.“ (S. 196)
Andererseits ist er ganz dem Ureigenen seines Autors anverwandelt:
„Er hatte sich in seinen Sinn verliebt. Doch wie alle früheren Geliebten verließ auch der Sinn ihn nach kurzer Zeit. Aber solange er betört war, wurden ihm alles Auffassen und Verstehen ein Fest.“ (S. 204)
„Sie und das stete Verlangen, ihr liebendes, ihr loderndes Ja zur Welt ihm einzubrennen wie einem Hengst sein Kennzeichen.“ (S. 211)
Die Zeitkritik steht zum einen tief in der Tradition der Gattung: „Handeln, Reisen, Zeugen, Kaufen, Wählen etc. gehen mit der Zeit – Kunst widersteht ihr. Sie muß etwas dagegensetzen, sonst wäre die Zeit nicht die Zeit.“ (S. 213) In der unmetaphorischen Explizitheit der Aussage sowie in der abschließenden Tautologie bleibt dieser Aphorismus schwach. Kokettiert der Autor hier lediglich:
„Du hast alle gegen dich: doch wie beneiden sie dich um diese Chance.“ (S. 194)? Vielfältig und in der überwiegenden Mehrzahl sind die Gegenbeispiele. „Alle Welt zittert vor Zukunftslust: KI wird auch das Unendliche vermehren!“ (S. 202) Hier ist es das ins Somatisch-Anschauliche Zielende („zittern“) im Verein mit dem Neologismus („Zukunftslust“), das den Aphorismus aufwertet, dort das originelle Bild: „Nur der wie ein langes Kleid geraffte Geist durchquert unbeschmutzt die Abwässer der Kommunikation.“ (S. 206) Einmal bekommt der Satz unversehens eine höhere Dimension: „Die Welt als Rodomontade. Aufschneiderei alles Irdischen.“ (S. 205), einmal wird er bemerkenswert durch den überaus harten Kontrast des verdeckten Thomas-Mann-Zitats (aus dem Beginn der Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“) mit den Umweltgiften, die unsere Gegenwart belasten, mit dem zum bösartigen Täter mutierten „Zeitgeist“: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit, jedoch belastet mit Nitraten, Blei, Kolibakterien und Pestiziden. Und der Erzähler? Mit Zeitgeist ward er geschlagen wie Aias mit Wahn.“ (S. 215) Neu ist wahrlich nicht das Thema, Alter und Tod, neu aber ist die metaphorische Dimension („Außenposten“) in Verbindung mit der ‚Absicherung‘ durch die literarische Tradition: „Es ist niemandem zuzumuten, sich mit dem schlechten Leumund des Worts ‚Alter‘ abzufinden. Man sollte versuchsweise vom vorgerückten Außenposten sprechen. Auch Eliots ‚Old men ought to be explorers‘, alte Männer sollten Erkunder sein, ist ein Wegpfeil.“ (S. 221) Das Thema ‚Männer und Frauen’ – Paare sind das Straußsche Markenzeichen seit je – wird kurzerhand abgetan: „Männer und Frauen? Ein Märchen aus uralten Zeiten.“ (S. 193)
Am Schluss freilich wird „der verwirrte alte Dramatiker“, der heimlich einer Theaterprobe beiwohnt (in ihm spiegelt sich natürlich sein 80-jähriger Autor), „sanft, aber nachdrücklich hinausgebeten.“ (S. 230)
Der Grund dafür, dass Strauß auf das Ganze gesehen mit „Schattengetuschel“ seinen herausgehobenen Rang in der zeitgenössischen Aphoristik behaupten kann, scheint mir in dem zu liegen, was er die „Poesie unseres Denken“ nennt. Sie steckt dahinter, wenn er von einem zu verallgemeinernden „du“ ein gesteigertes Sehen fordert: „Du kannst mehr sehen. Du siehst nicht genug. Ein Leben lang läßt sich das Sehen steigern, während die übrigen Kräfte nur abnehmen.“ (S. 219) Voraussetzung dafür ist ein neues Verhältnis zwischen Willkürlichem und Unwillkürlichem: „Besseres, als dir unwillkürlich geschieht, wirst du mit dem besten Willen nicht erreichen.“ (S. 194) Der Omnipotenzanspruch des Bewusstseins ist zurückgedrängt („Bewußtsein – stets in Eile, meist sogar voreilig.“, S. 210), dagegen betont der „Dichter, Restlichtverstärker.“ (S. 206) „die uns steuernde Kraft des Unerkannten“ (S. 212).
[1] Botho Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München, Wien: Hanser 1999, S. 100.
[2] Botho Strauß: Allein mit allen. Gedankenbuch. Hrsg. von Sebastian Kleinschmidt. München: Hanser 2014, S. 11.
[3] Die Belehrung aus dem Internet: Heftel nannte man die kleinen Häkchen, die die Kleidung zusammenhielten. Sie waren so winzig, dass der Hersteller dieser Häkchen, der Heftelmacher, bei seiner Arbeit besonders gut aufpassen musste.
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