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Jürgen Wilbert über:
Toni Huber: Nicht immer geht der Abend dunkel aus. Hannover: der blaue reiter 2023.
Der Autor, geboren 1954 in Urexweiler/Saar, studierte 1975-1982 Philosophie und Anglistik in Saarbrücken und lebt seit 1983 als freier Schriftsteller und Dozent in Hamburg . Mit dieser Publikation legt Huber nach „Das Herz der Flöhe“ (Köln 1995) und „Staub: Sätzlinge“ (Blieskastel 2005) seinen dritten Aphorismenband vor. Im Verlag „der blaue reiter“ sind zuvor zwei Bücher mit Kurzgeschichten erschienen, in die seine zahlreichen Südamerika-Aufenthalte eingeflossen sind. Der Titel seines aktuellen Buches klingt alles andere als aphoristisch, ist vielmehr lyrisch gefärbt: „Nicht immer geht der Abend dunkel aus“. Der Motto-Aphorismus eingangs auf Seite 7 bietet zur gedanklichen Einstimmung eher eine Negativbestimmung des Aphorismus: „Aphorismus. Denn man kann beim Schreiben nicht alles weglassen.“ Da ist der Schlusssatz auf dem Rückencover des Buches schon wesentlich aussagekräftiger: „Mit dem, was ich sage, schaffe ich Platz für das Nichtgesagte.“
Das ansprechend gestaltete Hardcover-Buch (mit einem surreal anmutenden Titelbild) umfasst 121 Seiten (ohne Verlagswerbung), also über 500 Kurz- und Kürzesttexte; es bietet erfreulicherweise vorab eine inhaltliche Gliederung – von den Stichworten „Der Mensch“ und „Paradox-Parade“ bis zu „Sinn“ und „Last words“. Im ersten Kapitel finden wir bereits mehrere Textbeispiele, die das Stilmittel des Paradoxen variieren: „Einer: Als ich zum ersten Mal mit dem Guten konfrontiert wurde, dachte ich, es könnte lohnend sein, das Böse kennenzulernen.“ (11) (Warum der Autor vor dieser Aussage noch den Artikel „Einer:“ gesetzt hat, erschließt sich mir nicht.) Ein weiteres Beispiel finden wir auf S. 15: „Wir alle sind zum Tode verurteilt. Und bekommen doch nur lebenslänglich.“ Oder auch im Kapitel mit der Überschrift „Grenzen“: „Die Aussichten waren weg. / Jetzt kamen die Einsichten.“ (92)
Was die Metaphorik betrifft, so stoßen wir an vier verschiedenen Stellen auf das Sinnbild des Käfigs: „Auch wenn der Käfig fliegen würde, / der Vogel bliebe gefangen. / Der Passagier im Flugzeug.“ (13) – „Käfige sind wir. / Die fliegen wollen. / Flieger sind wir, aus Neigung. / Ständig am Abstürzen.“ (17) Und noch einmal auf S. 14: „Ein Mensch wird aus dem Käfig entlassen. / Flugs wird er zum Tier.“ Sollen die vielen Zeilensprünge eine Nähe zur Lyrik erkennen lassen? Am überzeugendsten erscheint mir die vierte Käfig-Metapher: „Zwanzig Jahre im Käfig. / Sie machen den Vogel drahtig.“ (12) Von einer originellen Sprachkraft zeugt auch dieser Aphorismus: „Alle Gehirne sind Verbrecher. / Alle sind in einen Schädel eingesperrt.“ (12)
Demgegenüber stolpern wir aber auch über die eine oder andere reine Wortspielerei: „Das Leben unterwindet den Tod.“ (15) Und: „Sein Drang verdrängt. / Seine Sprache verspricht. / Sein Wesen verwest.“ (19) Ferner auch über diesen etwas bemühten Reim: „Man hängt den Menschen Ketten um. / Ketten, die ehren. / Und Ketten, die zehren.“ (16)
Die weiteren Kapitel enthalten vorzugsweise Kurioses und Wortverspieltes, so „IndiviDuell. / Mit sich selber.“ (23) Mitunter auch in dialogischer Form: „Ich bin ich. – Bleib anders!“ (26) Etwas trivial und zudem noch gereimt kommt dieser Satz daher: „Er schleimt – und wird geleimt.“ (31) Wesentlich tiefsinniger sind da schon diese Textbeispiele, zunächst die Variation einer Redewendung: „Der wirkliche Aufklärer, der auch hinters Licht führt.“ (35) Und als hintergründige Metapher: „Der Holzfäller / sägt den Schatten um, / den der Baum ihm gespendet hat.“ (27) Der Abschnitt „Paradox-Parade“ bietet titelgemäß eine Fülle von vermeintlich Widersinnigem: „Er hat Glück- und ist trotzdem nicht glücklich. / Er hat kein Glück – und ist trotzdem glücklich.“ (45) Hubers Aphorismus von der „Uhr die stille steht, und zwei Mal am Tag wahr ist“ (43) erinnert doch stark an Marie von Ebner-Eschenbachs zeitlos gültigen Aphorismus: „Eine stillstehende Uhr hat doch täglich zweimal richtig gezeigt und darf nach Jahren auf eine lange Reihe von Erfolgen zurückblicken.“ Das Spektrum der Huberschen Texte reicht von arg konstruiertem Wortspiel: „Du biest schön. / Du hasst mich lieb.“ (46) bis zu einer gelungenen Pointe: „Die Liebe hört niemals auf / den Verstand.“ (50)
Das Kapitel „Vorletzte Frage“ beinhaltet durchweg aphoristische Gedanken in Frageform, bisweilen eher banal: „Warum verfolgt man einen Weg? / Was hat er verbrochen?“ (53) Oder: „Werden wir jemals wissen, / wann Zeit ist?“ (56) Vereinzelt stoßen wir dagegen auch auf gleichermaßen originelle Denkanstöße: „Ist das Loch im Glied der Kette frei?“ (55); „Wo ankert das Wasser?“ (54) Ebenso bildhaft surreal liest sich der eine oder andere Aphorismus in den Folgekapiteln über „Kunst“ und „Fehler sind Helfer“: „In der Tinte lernt die Feder fliegen.“ (59); „Wenn alle Stricke reißen, / klammern wir uns an den Tod.“ (71) Mitunter treibt aber sein überbordender Wortspieldrang ungeahnte Blüten: „Der Hirte ist auch / ein Thier.“ (71) Dies gilt auch für so manchen witzigen Kurztext im Kapitel „Dialogik“ (S. 83-85), das durchgängig in Frage-Antwort-Form strukturiert ist: „Der „Weg ist das Ziel.“ – „Das Ziel ist weg!“ Oder: „Wo bin ich bloß?“ –„Am Leben.“; „Wo möchten Sie Ihre Jahre im Alter verbringen?“ – „In der Zukunft.“ Hubers sprachliche und gedankliche Kreativität zeigt sich auch im Kapitel „Als-ob-tik“, so in deftig-ungeschminkter Art und Weise (S. 99): „Der größte Teil der Nestwärme verdankt sich Fürzen.“ Das letzte Kapitel ist bezeichnenderweise auch mit „Last words“ überschrieben und endet mit diesen beiden denk-würdigen Notaten: „Der letzte Schlag wird ein Herzschlag sein.“; „Last words – Words last.“ (118)
Fazit: Dieser neue Band von Toni Huber bietet eine Fülle von aphoristischen Perlen; er würde jedoch der/dem Lesenden noch mehr intellektuelles Vergnügen bereiten, wenn er auf einige allzu triviale und bisweilen bemühte Sprachspielereien verzichtet hätte. Hoffentlich bewahrheitet sich Hubers bescheidene Hoffnung auf S. 64, die der Zukunft der kurzen Gattung gilt: „Der Aphorismus überlebt. als Kleingedrucktes.“
JWD (3.2.2023)
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