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Michael Wollmann über:
Alexander Eilers: Hungerrationen. Aphorismen. Nebst diversen Freundesgaben. Mit einem Vorwort von Michael Rumpf. Würzburg: Königshausen und Neumann 2022.
Mit „Hungerrationen“ hat der promovierte Literaturwissenschaftler, Übersetzer, Lehrer, Herausgeber und DAphA-Preisträger Alexander Eilers (*1976) seinen achten Aphorismenband vorgelegt. Das knappe, aber nicht zu kurze sechsseitige Vorwort zu diesem Band schrieb der Aphoristiker Michael Rumpf (*1948), der zunächst einige allgemeine Hinweise zur Genese und Veröffentlichung von Aphorismen gibt, bevor er auf Eilers’ neuen Aphorismenband näher eingeht. Rumpf betont Eilers’ durchgängige „Vorliebe zum Ein-Satz-Aphorismus“ (S. 11) und weist auf den existenziellen Hunger als Leitmotiv für die neue Sammlung hin. Eilers’ „Hungerrationen“ sollen demnach als – im Grunde unzureichende – Wegzehrung verstanden werden, die neue Sammlung sei generell von einem Glaubensverlust und (realistischem) Pessimismus geprägt und getragen.
Nach drei thematisch passenden vorangestellten Mottos zu Hunger und Not von Novalis, Hans-Jürgen von der Wense und Thomas Niederreuther stellt Eilers eine besonders düstere Passage aus Byrons „Darkness“ über „quälende[n] Hunger“ „zur Einstimmung“ voran, die noch einmal das Leitmotiv der Sammlung unterstreichen soll.
Anschließend folgen auf 36 Seiten jeweils sechs, insgesamt also 216 überschaubare Aphorismen, die fast alle so kurz gehalten sind, dass sie selten mehr als eine Druckzeile benötigen. (Ein- bis Dreiwortsätze sind bei Eilers keine Seltenheit!) Diese gewählte Form der Präsentation – die stilistisch übrigens stark an die polnische Aphoristik in Lec’scher Manier erinnert – passt im Grunde vorzüglich zum titelgebenden Leitmotiv der Sammlung, da eine hervorstechende Kürze immer auch den Eindruck von Kargheit vermittelt. Wenn diese Kargheit durch eine bewusst gewählte Lakonik noch verstärkt werden kann, können daraus treffende Aphorismen resultieren. Eine allzu forciert wirkende Kürze kann auf der anderen Seite aber auch die Gefahr in sich bergen, dass die eigentliche Aussagekraft eines Aphorismus bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird und er der Beliebigkeit anheimfällt. Dieser Fall tritt dann ein, wenn ein Aphorismus sich letzten Endes so allgemein(-un)gültig auslegen lässt, dass nur noch Worthülsen als beliebig einsetzbare Versatzstücke übrig bleiben.
Wollte man bei Eilers zur Probe aufs Exempel beliebig Aphorismen aus dem Korpus der „Hungerrationen“ herausreißen, ohne den Kontext weiter zu beachten, könnte man manche Sätze durchaus als Plattitüden ohne signifikante Aussagekraft abstempeln. Wenn mir mein Nachbar an einem wolkenreichen Tag zurufen würde: „Der Himmel hält sich bedeckt.“ (S. 22), würde ich bei dieser Aussage zunächst einmal keinen großen Hintersinn vermuten. Wenn er mir dann noch versichern würde: „Der Mensch schreit zum Himmel.“ (S. 26), würde ich ihn vielleicht noch fragen, wen er denn meint, wenn ich gerade niemanden schreien hören kann. Sicherlich wäre es ungerecht und unangebracht, Aphorismen auf diese Weise bewusst „missverstehen“ zu wollen, aber das ist eben die Gefahr von besonders kurzen Aphorismen, dass sie oftmals den Anschein von Bedeutungslosigkeit erwecken, wenn ein oberflächlicher Leser nicht gewillt ist, ihrer genuinen (oftmals auch nur vermuteten) Bedeutung nachzuspüren.
Eilers’ Aphorismen sind in jedem Fall so konstruiert, dass sie den mitdenkenden Leser einfordern. Die Lektüre seiner Aphorismen wird besonders dann vergnüglich, wenn der unmittelbare Widerspruch des Lesers geradezu herausgefordert wird. Auf Eilers’ Satz „Kurz Gesagtes lebt länger.“ (S. 27) ließe sich zum Beispiel erwidern: Es hat sich dann vielleicht länger gehalten; aber ob es auch noch lebt, ist eine andere Frage! (Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass es auch ein Gütekriterium für einen gelungenen Aphorismus ist, wenn dieser Widerspruch erregen oder zum Weiterdenken anregen kann. Ein möglicher Widerspruch des Lesers stellt noch keine Schelte des Aphoristikers dar.)
Stilistisch ist Eilers ein Vertreter des philosophischen Aphorismus, der vor gelegentlichen einfacheren Wortspielen oder Sprichwortabwandlungen nicht zurückschreckt. Ein gelungenes Beispiel für ein abgewandeltes Sprichwort stellt beispielsweise der Aphorismus „Der gute Ton allein macht noch keine Musik.“ (S. 34) dar. Eher schwach wirken seine aphoristischen Versuche, die auf dem Wörtlichnehmen gängiger Phrasen beruhen: „Hat denn die Zeit nur einen Zahn?“ (S. 21), „Ist dem Teufelskreis noch mit der Quadratur beizukommen?“ (S. 31) oder „Das Salz der Erde macht sie unfruchtbar.“ (S. 48)
Markantere Sätze wie „Der wunde Punkt – am Ende des Satzes.“ (S. 37) erinnern stark an Vorbilder wie Lec oder Karl Kraus. Bemerkenswert und besonders anregend sind einige bewusst offengehaltene philosophische Fragezeichen-Aphorismen, die keine allzu offensichtlichen Phrasenspielereien darstellen: „Was ist das für ein Gott, den man leugnen kann?“ (S. 29); „Dürfen Algorithmen mit uns rechnen?“ (S. 30); „Warum nur ein Gewissen haben?“ (S. 39); „Ist es nicht gerecht, dass es für keinen Gerechtigkeit gibt?“ (S. 42); „Was ist schon Ungnade gegen Missgunst?“ (S. 46); „Wird auch Erziehung vererbt?“ (S. 48); „Ist Liebe zum Leben Feigheit oder Mut?“ (S. 50)
Eilers’ abgeklärter Pessimismus – der sich vielleicht aus seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Ulrich Horstmann erklären lässt – scheint in vielen ausgereiften Aphorismen immer wieder durch: „Ein Glaube, der Berge versetzt, hinterlässt Jammertäler.“ (S. 27); „Die Leere kann ein ganzes Leben füllen.“ (S. 28); „Nichts geht voran. Alles geht vorüber.“ (S. 29); „Die Simulation unserer Dummheit nennen wir ‚Künstliche Intelligenz‘.“ (S. 33)
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Eilers’ schmaler neuer Aphorismenband wieder sehr anregend ausgefallen ist; seine „Hungerrationen“ stellen allemal eine nahrhafte Wegzehrung für unterwegs dar, können ihr Versprechen also durchaus einlösen. Wer sich eine gut gewürzte Sättigungsbeilage erhofft, kann von Eilers allerdings nur enttäuscht werden und wird nolens volens zu anderer Literatur greifen müssen, um zufriedengestellt werden zu können.
Nachtrag: Wie schon in den vorangegangenen Bänden wird dieser Aphorismenband durch „Freundesgaben“ weiterer Aphoristiker ergänzt, die in einem separaten Anhang mit Autorenporträts auch kurz vorgestellt werden. Jeweils vier Aphorismen stammen diesmal von Tobias Grüterich, Franz Hodjak, Ulrich Horstmann (der übrigens die längsten Aphorismen der Sammlung beisteuert), Hans Norbert Janowski, Michael Rumpf, Hans-Horst Skupy, Andreas Steffens und Elisabeth Turvold.
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