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Jürgen Wilbert über:
Ernst Reinhardt: Woher? – Wohin? Aphorismen zu Lebensfragen. Basel 2021.

 

Von Ernst Reinhardt, Jahrgang 1932, ist in diesem Jahr ein neuer Aphorismenband erschienen. Nach einer Buchhandelsausbildung in Basel studierte er Germanistik und Publizistik in München und Wien. 1960 trat er in den Friedrich Reinhardt Verlag in Basel ein, den er von 1966 bis 1997 leitete. Er war Mitbegründer des Literarischen Forums Basel und des Deutschschweizerischen PEN-Zentrums. In seiner jüngsten Publikation – mit filigranen Zeichnungen des Schweizer Künstlers Rudolf Mirer (Jahrgang 1937) – legt er laut Untertitel gezielt „Aphorismen zu Lebensfragen“ vor. Sie bringen, so der Klappentext, „die Quintessenz aktueller Gedanken über persönliche Lebensgestaltung und gesellschaftliche Verhältnisse“ zum Ausdruck. Apropos Aphorismus und Lebenshilfe: Seine generelle Skepsis gegenüber der Lebenshilfefunktion von Aphorismen hat Wolfdietrich Schnurre seinerzeit in dieses drastische Bild gefasst: „Wer vom Aphorismus praktische Lebenshilfe erwartet, kann genauso gut einen Skorpion um eine Blutspende bitten“.

Das Themenspektrum ist bei Reinhardt weit gefasst von A wie Aphorismen und Aphoristiker bis Z wie Zeit und Zeitgefühl. Insgesamt sind im Inhaltsverzeichnis zwanzig Themenfelder aufgeführt. Für den Autors will der Aphorismus „nicht Wissen vermitteln, sondern Bewusstsein wecken.“ Vom Aphoristiker verlangt er, „den Mut, alle Lebensfragen und Weltprobleme aufzugreifen, und die Bescheidenheit, keine Lösungen zu wissen.“ (S. 94) Wobei hier die Rückfrage erlaubt sei, ob nicht gerade die Begrenzung auf bestimmte Einzelphänomene ertragreicher wäre.

In der Rubrik „Liebe und Partnerschaft“ finden sich vorwiegend weithin akzeptierte Ansichten vom gelungenen bzw. misslungenen Zusammenleben: „Keine Enttäuschung ist so gross wie enttäuschte Liebe.“ Oder wohlgemeinte Ratschläge wie: „Wahre Liebe ist die beste Verbindung von Glück und Sinn.“ / „In jeder guten Beziehung bedeuten die Partner füreinander beides: Geborgenheit und Herausforderung.“ (S. 10) Einen weiterreichenden Denkanstoß bieten diese beiden Aphorismen: „Damit sich eine Beziehung verwirklichen kann, ist es von Vorteil, wenn die Selbstverwirklichung der Partner erfolgt ist.“ (S.13) / „Liegt die Spracharmut bei Partnern daran, dass sie sich zu wenig zu sagen haben oder über zu viel nicht reden dürfen?“ (S. 10)

Reinhardts Aphorismen sind im Grunde durchgängig Appelle an die Humanitas des Menschen, so auch im Themenfeld „Krieg und Frieden“ (S. 52/53): „Jeder Krieg zerstört mehr Menschenleben, als er vernichtet.“ Hier kommt es genau auf die differenzierende Wortwahl und die Betonung an. Lapidar kommentiert er einen beschönigenden Allgemeinplatz und stellt korrigierend fest: „Der Krieg ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern ihr Konkurs.“ (S. 55) So manche seiner aphoristischen Aussagen sind jedoch so selbstredend, dass der/die verständige Lesende auf Anhieb nur zustimmen kann. Hier fehlt m. E. mitunter die sprachliche Raffinesse einer verblüffenden, ja provokanten Zuspitzung: „Die Kriegsgeschichte zeigt, wie viel Kreativität der Mensch für Destruktivität eingesetzt hat.“ (S. 55) Oder diese wohl rhetorische Frage: „Homo sapiens: der weise Mensch hat zwar alle früheren Gattungen überlebt, aber verdient er die Auszeichnung seines Namens?“ (S. 56)

Der Autor wendet gekonnt die unterschiedlichen literarischen Stilmittel an, vorzugsweise den Chiasmus: „Wir sollten, was uns der Zufall bringt, in die Hand nehmen, und nicht, was wir in der Hand haben, dem Zufall überlassen.“ (S. 15) Und an anderer Stelle: „Ungleiches Menschenlos: Die einen können leben, um etwas zu tun; die anderen müssen etwas tun, um leben zu können.“ (S. 21) Im folgenden Aphorismus hat Reinhardt eine originelle wie überzeugende Metapher aus der Musik eingebaut: „Ein schöner Tag ist ein Wohlklang, aber das Kontinuum eines guten Lebens ergibt eine wohltuende Melodie.“ (S. 16) Die auf der Seite folgende Sentenz kommt dann wieder als moralischer Appell daher: „Zu den Voraussetzungen für ein glückliches Leben gehört die Fairness gegenüber sich selbst.“ Dies trifft auch auf diesen Aphorismus in der Rubrik „Gegenwart und Zukunft“ zu: „Die einzige Hoffnung für die Erde besteht darin, dass es der Menschheit gelingt, mehr Probleme zu lösen als auszulösen.“ (S. 58) Dieser Einsicht wird sicherlich ernsthaft niemand widersprechen. Ebenfalls unmittelbar einleuchtend ist diese Maximalaussage: „Nichts kann so tief beglücken und so schwer verletzen wie die Sprache.“ (78) Man vergleiche bloß das ausgefeilte osteuropäische Sprichwort: „Unsere Zunge hat keine Knochen, doch sie kann Knochen brechen.“ Denn die sprachlich versierte Vermittlung geistreicher Lebensweisheiten (wie sie auch im Sprichwort erfolgt) stellt nur ein Merkmal des Aphorismus dar, es mangelt wie hier mitunter an der zündenden Zuspitzung eines Gedankens, der gleichsam auf dem Sprung ist. In diesem Sinne definiert Gerhard Uhlenbruck die Aphorismen als „gedankliche Kurzschlüsse, die mit einem Geistesblitz enden.“ Die, das möchte ich ergänzen, dann auch in besonderem Maße auf die gedankliche Weiterarbeit des / der Lesenden angewiesen sind. Reinhardts Aphorismen sind so betrachtet häufig zu selbstredend und daher leicht nachzuvollziehen, selbst wenn sie vermeintliche Widersprüche thematisieren: „Die Kleinen ermöglichen mit ihrer Arbeit die Finanzspiele der Großen, durch die sie oft ihr Arbeit verlieren.“ (S. 63)

Immer wieder formuliert Reinhardt aus der Ambivalenz von Worten aber auch gelungene Denkanstöße: „Je mehr wir die Zukunft der Erde bedenken, desto mehr kommen uns Bedenken.“ (S. 58) Oder: „Gottesstaat: Gott hat es nicht nötig, dass man mit ihm Staat macht.“ (S. 68) Anregende Texte finden sich unter „Psychologisches und Philosophisches“, wie etwa in diesem treffenden, bildhaften Vergleich: „Die Spiegel, die uns andere vorhalten, sind stets in deren Rahmen gefasst.“ (S. 72) Originell sind auch diese prägnanten und denk-würdigen aphoristischen Bestimmungen: „Coolness: emotionales Energiesparen.“ (S. 72) / „Das Böse ist nicht stärker als das Gute, aber freier in der Wahl der Mittel.“ (S. 73)

Aus den Themenfeldern „Verhaltensweisen und Umgangsformen“ sowie „Menschliches und Allzumenschliches“ seien die aus meiner Sicht besten Textbeispiele zitiert: „Gerüchte verurteilen schneller als Gerichte.“ (S. 79) / „Wer die Würde eines Menschen antastet, hat die seine schon verloren.“ (S. 79) Und eine Sentenz, die gerade in unsere aktuelle Debatte um die Corona-Schutzmaßnahmen passt: „Freiheit muss man erkämpfen, Freiheiten kann man sich nehmen.“ (S. 83) Schließlich die insbesondere für einen Aphoristiker gültige Devise: „An etwas Anstoss zu nehmen, ist eine gute Voraussetzung dafür, einen Anstoss zu geben.“ (S. 84)

Im vorletzten Themenfeld tummeln sich ohnehin die Aphoristiker/innen mit Vorliebe, in dem der „Sprichwörter und Redensarten“. Hier hat Reinhardt ebenfalls reichlich aphoristische Ernte eingefahren. Er beherrscht die Kunst des entlarvenden Wörtlichnehmens von Worten und des Kontrapunktischen, etwa in diesen Fällen: „Freistellung: Euphorischer Ausdruck für eine Situation, in der dem Betroffenen nichts mehr freigestellt ist.“ (S. 92) / „Nichts ist so krankheitsanfällig wie der gesunde Menschenverstand.“ (S. 92) Oder: „Wer keine Worte verlieren will, hat sie oft noch gar nicht gefunden.“ (S. 86) „Seine Variation des Sprichworts „Der Klügere gibt nach – gut bei privaten Streitigkeiten, schlecht bei politischen Entscheidungen“ (S. 92) erinnert stark an den allerdings ausdrucksstärkeren Aphorismus von Hans Kudszus: „Wenn der Klügere in der Politik nachgibt, begeht er nicht nur eine Dummheit, sondern ein Verbrechen.“

Resümierend möchte ich festhalten, dass die Lektüre der Aphorismen in dem neuen Band Reinhardts anregend und gewinnbringend ist, wenn man von einigen der allzu selbstverständlichen moralisch-appellhaften Mahnungen zum Zeitgeschehen und zum Verhalten der Zeitgenossen absieht.

 

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