zurück zur Übersicht der Rezensionen

 

Friedemann Spicker zu:
Rolf Friedrich Schuett: „Philosophischer Gehalt in literarischer Gestalt. Sentenzenschleifer: Dichter und Denker in Personalunion.“,
Norderstedt: Books on demand 2019.

Rolf Friedrich Schuett hat sich in den letzten Jahren primär wie sekundär vielfach in Sachen Aphorismus zu Wort gemeldet. (Die Neuerscheinungen in der dapha-depesche verzeichnen die Titel.) Er ist derzeit einer der produktivsten Aphoristiker überhaupt.

Hier legt der Philosoph Schuett in einem stattlichen Band von 324 Seiten eine Sammlung älterer Arbeiten vor, eine veritable Summe von nicht weniger als 26 längeren und kürzeren Beiträgen. Bei der Fülle der Ansätze ist es nicht anders denkbar, als dass es auch zu manchen Wiederholungen kommt. „Frag-Mentalität“ (165): das bezeichnet nicht nur seine Gegenstände, sondern auch die eigene Vorgehensweise in unzusammenhängenden, aber nicht unverbundenen Reflexionen auf der Grundlage stupender Belesenheit. Sie alle sind von der Grundüberzeugung getragen: „Für mich war der Aphorismus von Anfang an keine randständige Literaturgattung.“ (35) Was für ihn im Fokus steht, ist, mit dem Titel einer seiner Aufsätze, der „philosophische Gehalt in literarischer Gestalt (111): „Ich verstand immer den Aphorismus als philosophischen Gehalt in poetischer Gestalt, als Gegensatz-Einheit von existenziellem „Bild“ und essentiellem „Begriff“ (36). Die Stoßrichtung, auf dem Buchrücken dokumentiert: „gegen den zu lustiger Blödelei oder seichtem Gesinnungsspruch heruntergekommenen Aphorismus“. In der Diktion wechseln der Philosoph, in dessen Terminologie man sich einlesen muss („Der Aphorismus ist die paradoxe Einheit von produktiver Setzung und distanzierender Absetzung“, 128) und der überraschend-verknappende, antithetisch zuspitzende Aphoristiker miteinander ab („Bei Hippokrates wird die Medizin zum Aphorismus, bei Kant der Witz zur Medizin.“ 131); der Philosoph behält aber hier eindeutig die Oberhand.

Schon in seiner „Kurzgeschichte des Aphorismus. Subjektiver Lesebericht“ zeigt sich Schuett auf wenig mehr als 20 Seiten als der überlegene Gattungskenner, der anregende, betont subjektive kurze Notizen zu Autoren von Hippokrates über Chamfort und Lichtenberg bis Czernin festhält (etwa zu Kraus: auch Aphorismen, „die schlechter sind als sein Ruf“; zu Deschner: „linke Gesinnung ersetzt nicht immer das aphoristische Können“), mit Angabe der „Trefferquote“ und mit Beispielen. Die „Fragmente der Nachsokratiker in der europäischen Philosophie“ (145) nehmen diese Tour d’horizon unter Einbeziehung der Sekundärliteratur (z. B. Schalk, Wehe, Fedler, besonders oft Neumann) auf.

Ich greife einige weitere Beiträge heraus. Hinter der „Phänomenologie des Geistreichen“ (31) verbirgt sich eine kleine aphoristische Autobiographie. Schuett geht von der Wirkung aus und macht keinen Unterschied zwischen isoliert gedachten Aphorismen und Exzerpten; er lernt den genuinen Aphorismus, den Feind aller Systeme, recht eigentlich über dessen Gegner, Hegel, kennen. Der unerreichte Höhepunkt liegt für ihn in den Jahrzehnten um 1800. Der Essay „Aphoristische Existenz oder existenzphilosophische Aphoristik?“ (50) gipfelt in der Frage: „Sind Aphoristiker also die wahren Existenzphilosophen, ohne dass die Existenzialisten nun die wahren Aphoristiker sein müssten?“

„Dichter und Denker“ in Personalunion?“ geht von der These aus: „Die Philosophie hat noch lange nicht ausgeschöpft, was sie von europäischer Moralistik profitieren könnte.“ (242) Der Aufsatz „Gnomologisches Denken“ (58) diskutiert in der für ihn typischen Form unverbundener Absätze (Fragmente?) das Denken in kurzen Sprüchen, vor allem auf der Grundlage der Arbeiten des „Kieler Neophänomenologen“ Hermann Schmitz, besonders seines Begriffes „Witzverhalt“, der leider an der spezifisch aphoristischen Sache vorbeiargumentiere (83).

„Geistreicher Witz und Geisteswissenschaft“ (177) hält ein Plädoyer für Esprit und lakonische Prägnanz. „Moralistik oder „moral sciences“? (188) plädiert zum wiederholten Male für das aphoristische Philosophieren in seinem Sinne: „Aber hat Hegel den bösen Schlegel jemals widerlegt?“ (198) „Dichter und Denker“ in Personalunion?“ (242-320) legt ausgehend von der These: „Die Philosophie hat noch lange nicht ausgeschöpft, was sie von europäischer Moralistik profitieren könnte.“ (242) seinen Ansatz im Durchgang von Heraklit über Kant, die Frühromantiker und Hegel („Hegel war die Regel, Schlegel war der Flegel“) bis zu „Lichtenberg, Schlegel, Nietzsche und Adorno, den vier vielleicht bedeutendsten aphoristischen Philosophen“ (307), mit vielen Zitaten aus der Sekundärliteratur noch einmal breit dar, was hier nur anzuzeigen, aber nicht eigentlich zu rezensieren ist.

Der Band fordert dem Leser und der Leserin einiges ab. Es ist Arbeitsbuch, auch geistiger Steinbruch. Aber jeder, der sich darauf einlässt, wird von den Überlegungen, Zitaten und Kommentaren Schuetts, auch im produktiven Widerspruch, profitieren können, der eine vielleicht durch die ausführliche Diskussion mit dem Gattungstheoretiker Fricke (222-228), der andere durch die Statistik über Alter, Auskommen, Beruf und politischen Standort unterschiedlichster Aphoristiker (234), wie sie sich in dem zunächst rätselhaften Abschnitt „Rätselhafte Zwerg-Satiren“ (200) verstecken (um nur zwei Beispiele zu nennen).

Wir würden gern eine Diskussion über das Buch oder Einzelheiten daraus eröffnen und laden ausdrücklich zu einer Zweitrezension von betont philosophischer Warte aus ein.

 

zurück zur Übersicht der Rezensionen