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Alexander Eilers über:
Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage. Notizen 2008–2011. Suhrkamp: Berlin, 2012.
Ders.: Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011–2013. Suhrkamp: Berlin, 2018.
Ders.: Polyloquien. Ein Sloterdijk Brevier. Hrsg. von Raimund Fellinger. Suhrkamp: Berlin, 2019.

 

„Unseren täglichen Spruch gib uns heute“ – zu Peter Sloterdijks ‚datierten Notizen‘

Der 1947 geborene Peter Sloterdijk mag vieles sein: emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Ehrendoktor der Universität Nijmegen, vielkommentierter Kritiker der zynischen Vernunft, Träger zahlreicher Essayistik- und Rednerpreise, meinungsfreudiger Stichwortgeber in Feuilleton-Debatten, Mitglied des Frankfurter Zukunftsrats, Verfasser der mentalitätshistorischen Sphären-Trilogie, Romancier, Librettist sowie langjähriger Gastgeber des von 2002 bis 2012 im ZDF ausgestrahlten Philosophischen Quartetts, in dem er an der Seite von Rüdiger Safranski mit zwei weiteren – immer wechselnden – Gesprächspartnern über kulturell-gesellschaftspolitische Probleme diskutierte. Wenn man ihn nun aber für seine Fähigkeit lobt, „in kurzen Sätzen oder in Kapitellänge blitzartig einschlagende Einsichten zu formulieren, die ihre illuminierende Kraft der sprachlichen Form verdanken“ (Peter Weibel) und die sich in ihrer „Pointiertheit nicht hinter Nietzsche oder Cioran verstecken müssen“ (Nico Schulte-Ebbert), stellt sich die Frage, ob er nicht auch als Aphoristiker gelten darf – und das umso mehr, seitdem ihm Phillip Kovce in der Insel-Anthologie Die schönsten deutschen Aphorismen (2019) einen Platz neben Klassikern wie Lichtenberg, Goethe, Novalis, Hebbel oder Kraus eingeräumt hat. Grund genug, Sloterdijks Kurzprosa in Augenschein zu nehmen und sein Verhältnis zum Gedankensplitter näher zu bestimmen.

Relevant sind hier ohne Zweifel die beiden voluminösen Bände, die in Anspielung auf Hesiods ???a ?a? ?µ??a? (um 700 v. Chr.) sowie auf Marcel Prousts Les Plaisirs et les Jours (1896) unter dem Titel Zeilen und Tage (2012, zit. als ZT) bzw. Neue Zeilen und Tage (2018, zit. als NZT) bei Suhrkamp erschienen sind. In ihnen finden sich – was sowohl die implizite Referenz auf das Diarium als auch der explizite Zusatz Notizen erkennen lässt – mit Daten und Ortsangaben versehene Aufzeichnungen über Begegnungen, Lektüreeindrücke oder Tagesaktualitäten, ebenso wie philosophische Reflexionen und Entwürfe zu eigenen Texten. Linierten DIN-A4-Heften entnommen, die der Autor über Jahrzehnte hinweg als Denktagebücher geführt hat, setzen sie nicht in seiner Jugend, sondern auf dem Höhepunkt seiner Karriere ein. Sie beginnen im Frühjahr 2008 und umfassen – in jeweils zwei Bücher untergliedert – insgesamt 20 Journale, wovon sich die erste Hälfte bis Mai 2011, die zweite bis September 2013 erstreckt.

Eingeleitet werden beide Publikationen, die Sloterdijk selbst zusammengestellt, transkribiert sowie bearbeitet hat, mit Erläuterungen zur Form. Im Vorwort von Zeilen und Tage schreibt er beispielsweise, dass die Gattungszugehörigkeit des Werks nur schwer zu fassen sei. Es weise zwar formale Ähnlichkeiten mit dem von Paul Valéry praktizierten cahier auf, doch sehe es von der „nachträgliche[n] Sortierung der Eintragungen in Themengruppen“ (ZT, S. 8) ab. Ebenso wenig handle es sich bei ihm um ein „Tagebuch im gewöhnlichen Sinne“ (ebd.), geschweige denn um intime Memoiren oder ein carnet secret, weshalb man sich vielleicht auf das „wenig belegt[e] Genre“ (ebd.) der „datierten Notizen“ (ebd.) einigen könne. Ähnliches führt der Verfasser zu Beginn der Neuen Zeilen und Tage aus, wo es – unter konsequenter Beibehaltung der alten Rechtschreibung – heißt:

„Auf dem richtigen Weg dürfte sein, wer eine Affinität zu Paul Valérys Cahiers vermutet – nur daß hier die Notizen in natürlicher Unordnung chronologisch aufeinanderfolgen, ohne thematische Gruppierung. Der Sache am nächsten käme, wer sich bei der Lektüre […] an den Begriff der ‚intellektuellen Komödie‘ erinnert, mit dem der französische Dichter seine Erwartungen an eine künftige Literatur umschrieb“ (NZT, S. 10f.).

Was also vorliegt, ist eine Synthese aus Erinnerungsbuch und Ideensammlung. Ersterem entsprechen Sloterdijks Vermerke dahingehend, dass sie innere und äußere Zustände als „Indizien des Dagewesenseins in der verlorenen Zeit“ (ebd., S. 10) festhalten, letzterer hingegen insofern, als sie vom Subjekt abstrahieren, um allgemeingültige Erkenntnisse zu vermitteln. Solche Spannungen, die vor allem in der „Peinlichkeit des Ich-Sagens“ (ZT, S. 9) spürbar werden, können mitunter für terminologische Verwirrung sorgen. Wenn nämlich der Autor an einer Stelle behauptet, keine Tagebücher zu führen, sondern Notizen anzufertigen (vgl. NZT, S. 72), anderenorts jedoch betont, dass die „Arbeit des Diaristen“ (ebd., S. 264) darin bestehe, „aus notierten Erinnerungen Zeilen zu machen, die unabhängig von eigenen Erfahrungen [verständlich sind]“ (ebd.), werden die Gattungsbegriffe miteinander vertauscht. Dies mag Sloterdijks Wunsch entspringen, die ‚datierten Notizen‘ als eigenständige Form zu etablieren, macht sich aber auch dort bemerkbar, wo er an Henning Ritters „Serie von Maximen und Reflexionen“ (ZT, S. 476) die „Datierung“ (ebd.) vermisst, Niklas Luhmanns Zettelkasten „subjektive[n] Geist“ (ebd., S. 582) zugesteht, um wenig später zu behaupten, die ‚hölzerne Witwe‘ hätte ihn „am spontanen Denken gehindert“ (ebd., S. 583), Friedrich Schlegels Literarische Notizhefte zur „Schule der absoluten Liberalität“ (NTZ, S. 234) erhebt und Cees Noteboom dafür kritisiert, dass er „voller Bewunderung auf Leute wie [Witold Marian] Gombrowicz“ schaue, die in ihren „Diarien auch ‚Ideen‘ […] notieren“, denn: „Ob das einem Autor gerecht wird, der schreiben konnte ‚Montag Ich, Dienstag Ich, Mittwoch Ich‘? Was gehen uns die Benutzer von Personalpronomen an?“ (ebd., S. 225).

Gerade aus der letzten Bemerkung dürfte der überindividuell-generalisierende Zuschnitt der ‚Zeilen und Tage‘ ersichtlich werden. Wer nun allerdings meint, Sloterdijks Notizen könnten deswegen grundsätzlich zur Aphoristik tendieren, liegt falsch, sind doch in beiden Veröffentlichungen nur wenige Textbeispiele enthalten, die sich als kotextuell isolierte, konzise, bis auf Satz und Einzelwort verknappte Sinnsprüche beschreiben ließen. Obwohl der Urheber bestens mit der Gattungsgeschichte vertraut ist, wie seine Rezeption von Pascal, Chamfort, Rivarol, Lichtenberg, Goethe, Leopardi, Nietzsche, Hoffmannsthal oder Gómez Dávila zeigt, „bedenk[t]“ er – das romantische Fragment vor Augen – bloß „gelegentlich den Ruinenwert von Aphorismen“ (ZT, S. 254). Hinzu kommt, dass sich Sloterdijk in seinen selten Reflexionsscherben hauptsächlich auf ausgetretenen Pfaden bewegt. Wenn er nämlich die „Bescheidenheit“ zu einer „Art und Weise“ erklärt, „unter der egalitären Asche die elitäre Glut zu hüten“ (ebd., S. 139), und „den Versager mit viel freier Zeit“ als den „unangenehmsten Feind“ (ebd., S. 560) ausmacht, fühlt man sich unweigerlich an die französische Moralistik erinnert. Dazu passt auch, dass er „[i]n Paris“ (ebd., S. 366) zu einer „Konversationsmaschine“ (ebd.) mutiert, die – „ganz Stroh und Feuer“ (ebd.) – „Aphorismen ausdruckt“ (ebd.), womit er auf die Bonmot-Versessenheit des literarischen Salons anspielt. Mal ähneln seine zugespitzten Kurzeinträge den Greguerías von Gómez della Serna – „Die Sorgen brechen in die Wohnung ein und reißen die Schubladen auf“ (ebd., S. 73) –, mal greifen sie typische Lec-Motive auf: „Der ernährungsbewußte Kannibale: ‚Man möchte doch wissen, wen man ißt‘“ (ebd., S. 363). Selbst seine besten Merksätze geben Altbekanntes, etwa Adornos Einsicht in das ‚Unwahre des Ganzen‘, wieder: „Das aufrührerische Korn denkt, es verändert die Mühle, wenn es sich von ihr zermahlen lässt“ (ebd., S. 184).

Was der Karlsruher Philosoph angesichts derart unterschiedlicher Einflüsse unter einem Gedankensplitter versteht, bleibt freilich unklar. So stellt er zwar beziehungsreiche Überlegungen zu ‚geflügelten Worten‘ an – „[Ihnen] ist eigentümlich, den Gegenständen, von denen sie handeln, nicht mehr verbunden [zu sein] als ein Flugzeug der Startbahn, die es verlassen hat“ (NZT, S. 427) – und dürfte mit seiner Weigerung, in der „Twitter-Schreibweise“ (ebd., S. 296) die „Matrix für eine neue Aphoristik“ (ebd.) zu sehen, durchaus recht haben – „Wo sonst könnte man einen Satz lesen wie den: ‚Es ist gar nicht so leicht, keine Kinder und keinen Beruf unter einen Hut zu bringen‘?“ (ebd.) –, doch ist sein Gattungsbewusstein im großen Ganzen zu schwach ausgeprägt. Das erklärt nicht zuletzt, warum manche Beiträge, die auch bei Kovce abgedruckt sind, sperrig anmuten – „Glück ist ein lokales Phänomen; wer es generalisieren möchte, zerstört es“ (NZT, S. 253) –, den nötigen Esprit vermissen lassen – „Leben und über seine Verhältnisse leben sind Synonyme“ (ZT, S. 260) –, oder mit akademischen Imponiervokabeln aufwarten: „Was man Geistesgeschichte nennt, beruht auf der Illusion der Rückwärtskompatibilität von Ideen“ (ebd., S. 349).

Sloterdijks Aufnahme in Die schönsten deutschen Aphorismen scheint sich also weniger seiner Virtuosität als seiner Prominenz zu verdanken. Da es sich nämlich bei seinem neusten sentenzenhaltigen Buch – den von Raimund Fellinger herausgegebenen Polyloquien (2019) – um ein aus bereits veröffentlichten Texten bestehendes Brevier handelt, muss sich der Verfasser der ‚Zeilen und Tage‘ seine aphoristischen Lorbeeren noch verdienen. Hierzu mag ihm ein dritter, möglicherweise schon in Vorbereitung befindlicher Notizen-Band verhelfen. Gleichwohl sei er an die eigene Warnung vor der „neuen Zeitkrankheit Überdokumentation“ (NTZ, S. 256) erinnert, weswegen er von einer mehrteiligen Diarien-Serie Abstand nehmen sollte. Viel reizvoller wäre es dagegen, wenn er seine allmorgendlich notierten Maximen und Reflexionen in einer separaten Sammlung auf den Markt brächte. Denn von klassischen Aphorismen wie „In der Beziehungskrise läuft der Liebesfilm rückwärts ab“ (ZT, S. 405) oder „Nach oben wird zitiert, nach unten abgeschrieben“ (ebd., S. 349) möchte man als Liebhaber prägnant-geistreicher Gedankenscherben mehr geboten bekommen. Insofern ist ihm ein täglich kluger und formal überzeugender Spruch zu wünschen.

 

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